Alte Schädel vor einem erfolgreichen Jungwissenschafter: Anthropologe Bence Viola forscht nicht nur an fossilen Knochen, sondern auch an darin enthaltener DNA.

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Das zweite Denisova-Fossil: ein mächtiger Backenzahn.

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Möglich wurde die Entdeckung der "Denisovans" dank der enormen Fortschritte in der Genetik. Diese eröffnen der Anthropologie ganz neue Möglichkeiten.

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Der kleine Knochen, der im Vorjahr das Wissen über die Vormenschen auf den Kopf stellte, ist ein bisschen größer als ein halber Hemdknopf. Bence Viola hat eine exakte Kopie des im Original rund 40.000 Jahre alten Bruchstücks eines Fingerknochens aus einem Plexiglasdöschen ausgepackt und auf den Tisch gelegt. Wie ist es möglich, mit so einem Miniding unser bisheriges Wissen um die Humanevolution zu erschüttern?

"Das ist die Frage, die alle stellen", erwidert Viola. Der junge Anthropologe, der 2009 in Wien promovierte und seit 2010 am MaxPlanck-Institut (MPI) für evolutionäre Anthropologie forscht, zeigt auf eine kaum stecknadelgroße Vertiefung, die auf den Weg zur Lösung verweist: "Mit einem Zahnarztbohrer wurde aus dem Knochen eine geringe Menge Knochenpulver herausgefräst."

Die 45 Milligramm uralten Knochenstaubs enthielten überraschend viel intakte DNA. Als man dann am Leipziger Institut diese Erbsubstanz sequenziert und zusammengesetzt hatte, war zur Überraschung aller beteiligten Forscher klar, dass es neben dem Neandertaler bis "vor kurzem" noch einen weiteren engen Verwandten des Homo sapiens gegeben hatte, der völlig unbekannt war: den Denisova-Menschen.

Benannt wurde dieser neue Ahn im Stammbaum des Menschen nach einer im südsibirischen Altaigebirge gelegenen Höhle, in der neben dem Fingerfragment auch noch ein Denisova-Zahn gefunden wurde. Die sensationelle Entdeckung der bislang völlig unbekannten Menschengruppe war der Wissenschaftszeitschrift Nature im Vorjahr gleich zwei Publikationen wert, zweimal übrigens mit dem 33-jährigen Bence Viola als Koautor. Im zweiten Artikel, der erst vor vier Wochen erschien, erfolgte die Detailbeschreibung der "Denisovans", wie sie im englischen Fachsprech heißen: "Die neue Art ist jedenfalls näher mit den Neandertalern verwandt als mit uns modernen Menschen", erklärt Viola (siehe "Wissen").

Verwandte der Melanesier

Entsprechend sei ihre Bevölkerungsentwicklung ganz anders abgelaufen. Spuren der Denisova-DNA fanden sich - die nächste Überraschung - ausgerechnet bei Melanesiern und bei sonst keiner heute lebenden Population. Irgendwo und irgendwann in Asien müssen sich die Denisovans also mit Homo sapiens gepaart haben, so das internationale Forschungsteam rund um den Leipziger MPI-Direktor Svante Pääbo, den Erfinder der Paläogenetik.

Viel schwieriger zu beschreiben ist allerdings, wie man aus den 45 Milligramm Knochenmehl zu diesen verblüffenden Erkenntnissen kommen konnte. Da muss zuerst einmal die in kleine Teile zerbrochene DNA aus dem Knochenpulver herausgelöst werden, dann werden diese Teile vervielfältigt - alles unter strengsten Reinraumbedingungen. "Das größte Problem alter DNA ist nämlich ihre Verunreinigung", erklärt Viola.

Bei den Proben der Neandertaler, deren Genom man seit 2010 ebenfalls zum Großteil kennt, waren nur ein bis vier Prozent der DNA von den Neandertalern selbst. Der Rest der DNA stammte von Pilzen, Bakterien oder von Forschern. Beim Denisova-Finger hingegen hatte man unerklärliches Glück: 70 Prozent der Erbsubstanz stammten vom Menschenahn. Warum so viel, wissen die Forscher auch nicht genau.

Die DNA wird dann sequenziert, was mit den modernen Maschinen gerade einmal ein paar Tage dauert. Danach hat man einige Terabyte an DNA-Schnipseln - und dann beginnt die eigentliche Arbeit: die Abermillionen Teile des Genompuzzles richtig zusammenzusetzen und die "falschen" Teile auszuscheiden. Das wird von den Bioinformatikern am Computer erledigt; von den 28 Koautoren des neuen Denisova-Aufsatzes forschte knapp die Hälfte ausschließlich am Computer.

Wie sehr auch die evolutionäre Anthropologie auf die neuesten Sequenziertechnologien setzt und von ihnen profitiert, zeigt sich am MPI in Leipzig, dem weltweit führenden Zentrum dieses Forschungbereichs: Dort stehen mittlerweile sieben Sequenzierer der neuesten Generation im Wert von je einer Million Euro. Und von den 140 Forschern, die allein an der Abteilung für evolutionäre Genetik arbeiten, ist gerade ein Drittel im Labor beschäftigt, alle anderen nur noch am Computer.

Willendorf und Usbekistan

"Dabei steht man mit den Forschungen erst ganz am Anfang", sagt Viola, der als einer der wenigen noch tatsächlich mit echten Knochen zu tun hat und auch noch eigenhändig in mehr oder weniger entlegenen Gegenden vom niederösterreichischen Willendorf über Äthiopien bis Usbekistan nach ihnen gräbt. Die neuen Möglichkeiten sind jedenfalls enorm, und womöglich braucht man in Zukunft auch gar keine alten Knochen mehr bzw. muss sie nicht mehr anbohren.

So hat das Team um den dänischen Wissenschafter Eske Willerslev nicht nur ein Mammut und einen 4000 Jahre alten Grönländer sequenziert. Die Forscher haben zuletzt uralten Permafrostboden durch ihre Sequenzierer geschickt, um dort auf Spuren von ausgestorbenen Tieren und Menschen zu stoßen. Denn auch in versteinertem oder gefrorenem Kot kann sich auswertbare Erbsubstanz finden.

"Man steht aber auch erst deshalb am Beginn der Arbeit, weil man im Grunde immer noch so wenig über die Funktion der einzelnen Gene weiß", erklärt Viola. Man weiß zwar, dass sich der Neandertaler und der moderne Mensch in rund 20 der knapp 30.000 Gene stark unterscheiden, was das aber im Hinblick auf das Aussehen oder die Hirnentwicklung bei unseren nächsten Verwandten bedeutet, ist völlig offen - und wird auch nicht leicht zu klären sein.

Viola nennt als Beispiel das FOXP2-Gen, von dem man immerhin weiß, dass es eine zentrale Rolle bei der Sprachentwicklung spielt. "Die menschliche Variante kommt auch beim Neandertaler vor, nicht aber beim Schimpansen." Sprich: Auch die Neandertaler dürften mittels Sprache kommuniziert haben. Wie aber FOXP2 sich etwa im Hirn auswirkt, das wird - natürlich auch am MPI in Leipzig - von einer eigenen Arbeitsgruppe seit zehn Jahren untersucht. Und noch immer sind die meisten Fragen offen. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 19.01.2011)

=> Wissen: Wir, Neandertaler und "Denisovans"

Wissen: Wir, Neandertaler und "Denisovans"

Nach den jüngsten Erkenntnissen lebten die letzten gemeinsamen Vorfahren von Neandertaler und modernem Menschen (Homo sapiens) vor rund 500.000 Jahren in Afrika. Unsere Vorfahren, die sich später noch einmal kurz mit den Neandertalern mischten, wanderten vor mehr als 100.000 Jahren über die Halbinsel Sinai nach Europa und Asien ein.

Die Denisovans spalteten sich von den Neandertalern vor rund 450.000 Jahren ab und vermischten sich in Asien noch einmal kurz mit jenem Teil der modernen Menschen, der heute auf Papua-Neuguinea lebt. Die Devisovans und die Neandertaler starben dann vor rund 30.000 Jahren aus - vermutlich, weil ihre Reproduktionsrate geringer war und ihnen die Klimaveränderungen mehr zusetzten. (tasch)