Jugend forscht: Marina (Ariane Labed, re.) widmet sich dem Zungenkuss in Theorie und Praxis, ihre beste Freundin Bella (Evangelia Randou) ist in "Attenberg" dabei behilflich.

Foto: Stadtkino

Wien - Zwei junge Frauen in dunklen, zart bedruckten Baumwollkleidern und schwarzen Stiefelchen tänzeln, hüpfen, posieren einen schmalen Weg entlang. Manchmal halten sie mitten in einer wilden Bewegung abrupt inne - gefrieren zum lebenden Bild. Das könnte eine Reminiszenz an ein Kinderspiel sein, die Imitation tierischen Gebarens oder auch eine künstlerische Performance.

Alle drei Annahmen haben ihre Berechtigung. Die beiden Frauen leben in einem kleinen Ort an der westgriechischen Küste, Marina (Ariane Labed) noch bei ihrem Vater Spyros (Vangelis Mourikis). Sie geht keiner geregelten Arbeit nach, manchmal nimmt sie kleinere Aufträge an, fungiert als Fahrerin für Neuankömmlinge. Ihre Freundin Bella (Evangelia Radou) ist ihre Instruktorin und ihr erstes Studienobjekt: Denn Marina hat sich den Blick ihres Idols, des britischen Naturfilmers Sir David Attenborough, angeeignet und wendet ihn nun auf die Beschäftigung mit den Verhaltensweisen und Eigenheiten menschlicher Säuger an. Vor allem deren Paarungsrituale - Stichwort: Zungenkuss - sind ihr ein wenig rätselhaft.

Die Betrachtung aus wissenschaftlicher Distanz bedeutet jedoch auch einen Sicherheitsabstand zum eigenen Leben. Marinas Vater ist krank. Einen Freund hat sie nicht. Ob Bella bleiben wird, ist unklar. Marina selbst befindet sich in einem Zwischenstadium. Sie zieht sich unter ihre Kopfhörer zurück, will "lieber nicht" ausziehen, Sex haben, weggehen, ein eigenes Leben führen. Aber auch der Rückzug kostet auf Dauer Energie.

Erzählt wird diese Geschichte von Neuanfang und Abschieden in Athina Rachel Tsangaris schön sprödem Spielfilm Attenberg in Form langer Einstellungen. Winterliche Schauplätze, funktionale, ein wenig abgewohnte Innenräume oder einfach weiße Wände geben den Hintergrund der Szenen ab. Das verleiht dem Film eine leicht unterkühlte Atmosphäre. Die tänzerischen Verrenkungen und Improvisationen tauchen darin immer wieder wie klassische Show-Stopper auf. Sie setzen kleine performative Spitzen in ein weitgehend gleichförmiges Geschehen.

Anarcho-Schwestern

Marina und Bella erinnern dabei an die Anarcho-Schwestern Maria und Maria aus Vera Chtylovas Filmklassiker Tausendschönchen. Die griechische Autorin und Regisseurin bezieht sich jedoch noch mehr auf die "silly walks" der britischen Komikertruppe Monty Python oder aufs alltagsnahe Tanztheater von Pina Bausch. Tsangari hat unter anderem Performance Art in New York studiert. Wahrscheinlich hat es zur Eigenheit ihres Films beigetragen, dass sie ihn aus dieser Richtung kommend angegangen ist.

Attenberg operiert zwar grundsätzlich mit allen Elementen einer Erzählung. Dramatik wird aber einerseits über die Konstruktion ausgebremst, andererseits brechen auch die Figuren immer wieder in Richtungen aus, die überraschend sind: Sie lassen sich einfach fallen oder machen sich buchstäblich zum Affen. Das sorgt nicht zuletzt für ein ordentliches Maß an Komik. Und Marinas und Bellas absurd dahingehampelte Tanz-Performances haben schließlich auch einiges von Slapstick-Einlagen.

Im Wettbewerb von Venedig trat Attenberg vergangenen September als eine Unbekannte an, die sich als erfreuliche Überraschung entpuppte - aber auch manche Kritiker verstörte. Ariane Labed erhielt die Coppa Volpi als beste Schauspielerin.

Tsangari fungierte, bevor sie ihren eigenen Spielfilm inszenierte, unter anderem auch als Koproduzentin von Giorgos Lanthimos' Dogtooth: ein anderes erfrischendes und eigenwilliges Lebenszeichen eines jungen griechischen Kinos, von dem wir hoffentlich noch mehr zu sehen kriegen. (Isabella Reicher/DER STANDARD, Printausgabe, 19. 1. 2011)