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Solidaritätsbekundung: junge Frau in Marseille mit tunesischer Flagge.

Foto: AP/Paris

Ausgerechnet in Paris, wo seit 1789 schon mehrfach die Pflastersteine flogen, verschlief die politische Führung die "Jasmin-Revolution" in Tunis gründlich. Schlimmer noch: Die selbsternannte Nation der Menschenrechte hatte sich noch Mitte vergangener Woche auf die Seite der tunesischen Polizei gestellt, bot ihr doch Außenministerin Michèle Alliot-Marie "das Know-how der französischen Sicherheitskräfte" an.

Am Freitagabend, als US-Präsident Barack Obama bereits den Mut der tunesischen Demonstranten gelobt hatte, hieß es aus dem Elysée knochentrocken: Man nehme den "institutionellen Übergang zur Kenntnis" - nicht einmal den Volksaufstand selbst.

Plötzliche Kehrtwende

Der französische Kurswechsel kam dann noch schneller als zuvor der Umsturz in Tunis: Der gestürzte Präsident Zine El Abidine Ben Ali, der dem Vernehmen nach in Malta auf die französische Erlaubnis einzureisen wartete, wurde abgewiesen und musste nach Saudiarabien weiterfliegen. Am Sonntag blockierte Paris nach Eigenangaben die Vermögen der Herrscherclans Ben Ali und Trabelsi bei französischen Banken. Eine Tochter und ein Enkel Ben Alis wurden gebeten, das Land zu verlassen. Jetzt war Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy "auf der Seite des tunesischen Volkes" .

Alliot-Marie redete sich zuerst heraus, Frankreich halte sich eben international an das "Prinzip der Nichteinmischung" . Blätter wie Le Monde fragten darauf, warum denn Sarkozy jede noch so kleine Demonstration im Iran würdige, im viel näheren Tunesien - einer Ex-Kolonie Frankreichs - aber kein Wort der Unterstützung für die Proteste gefunden habe. Alliot-Marie ließ wissen, sie habe mit dem Hilfsangebot an die Polizei nur verhindern wollen, dass diese scharf auf die Demonstranten schieße.

Die von Verlegenheit gefolgte Blindheit der französischen Diplomatie unterscheidet sich nicht groß von der zwiespältigen Reaktion anderer EU-Staaten. In Frankreich, wo 600.000 Tunesier leben, gründet sie auf der Angst vor einem Überschwappen der Revolte auf die Vorstädte von Paris, Lyon und Marseille - und einer Kettenreaktion in Algerien und Marokko.

Dazu kommt die Gefährdung der engen Wirtschaftsbeziehungen mit Tunesien. 20.000 Franzosen leben und arbeiten dort, noch mehr reisen in den Kleinstaat, um Urlaub zu machen oder sich einer billigen Schönheitsoperation zu unterziehen.

Sorgenkind Algerien

Am größten ist aber die Furcht vor dem Aufkommen der Islamisten. Dies nicht so sehr in Tunesien, das eine laizistische Tradition hat und wo sich die konservative Muslimbewegung Ennahda ähnlich wie in der Türkei an den demokratischen Institutionen beteiligen könnte. Mit großer Sorge verfolgt Paris dagegen die Lage in Algerien, wo die Islamisten 1991 schon die Wahlen gewonnen hatten.

Ex-Justizministerin Rachida Dati - algerisch-marokkanischer Abstammung - drückte am Sonntag aus, was viele ihrer Politikerkollegen denken, auch wenn sie den Umsturz in Tunis gutheißen: "Ben Ali spielte eine große Rolle für die Entwicklung, aber auch im Kampf gegen Terrorismus und Fundamentalismus." Die französische Linksopposition hält dagegen, Polizeirepression, Vetternwirtschaft und die schamlose Bereicherung des Ben-Ali-Clans an der Staatskasse seien für Islamisten ein gefundenes Fressen gewesen. (Stefan Brändle aus Paris /DER STANDARD, Printausgabe, 17.1.2011)