Plötzlich frei: Edip Gümüş, Führer der islamistischen türkischen Terrororganisation Hisbollah (Mitte), feierte diese Woche umringt von Unterstützern seine Freilassung nach zehn Jahren Haft. Die Justiz war zu langsam mit dem Berufungsverfahren. Jetzt muss er sich bis zum letztinstanzlichen Urteil täglich bei der Polizei melden. İnşallah.

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„102" ist eine schlechte Zahl für die türkische Regierung und ein Horror für die Bevölkerung. Mit der Änderung des Artikels 102 des Strafgesetzbuchs sind diese Woche die Zellentüren aufgegangen für mindestens zehn Führer der türkischen islamistischen Terrororganisation Hisbollah. Verurteilte Mörder und Vergewaltiger werden in diesen Tagen ebenfalls auf freien Fuß gesetzt. Justizminister Sadullah Ergin bezifferte die Zahl der Freigänger auf rund 1200. Vor allem für in erster Instanz zu lebenslanger Haft Verurteilte wie die Hisbollah-Terroristen ist „102" so etwas wie ein Lotto-Volltreffer.

Regierung und Gerichte schieben sich nun gegenseitig die Verantwortung für dieses Justizdesaster zu. Anlass für die seit 2004 vorbereitete Strafgesetzänderung ist der Versuch der türkischen Regierung, bestimmte Haftzeiten in Einklang mit dem Standard in der EU zu bringen. Häftlinge sitzen in türkischen Gefängnissen in der Regel ohne letztinstanzliche Verurteilung mitunter mehrere Jahre. Die Journalistin Demet Bilge rechnete in der liberalen Tageszeitung Radikal die durchschnittliche Länge eines Strafprozesses vor: 310 Tage für die Vorerhebung, 642 Tage für die Anklage durch den Staatsanwalt, 580 Tage für den Prozess, 473 Tage liegt das Urteil in der Warteschlange beim Berufungsgericht, 399 Tage wird über Annahme oder Ablehnung eines Berufungsverfahrens entschieden, 1042 Tage dauert es im Durchschnitt bis zu einer endgültigen Urteilsverkündung.

In ihrem jüngsten Fortschrittsbericht zum Beitrittskandidaten Türkei hatte die EU-Kommission erneut die langen Haftzeiten kritisiert: Von derzeit rund 119.000 Häftlingen in türkischen Gefängnissen warte etwa die Hälfte auf einen Prozess oder ein letztinstanzliches Urteil. Bei den Ermittlungen zu dem Geheimbund Ergenekon zum Beispiel sitzen mehrere hundert Verdächtige zum Teil seit mehr als zwei Jahren in Haft, ohne dass es überhaupt zu einer Prozesseröffnung gekommen wäre. Die Hisbollah-Terroristen um Edip Gümüş, die vergangenen Dienstag freikamen, waren im Jahr 2000 nach einer Schießerei in Istanbul gefasst und erst ganze neun Jahre später zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Gegen die Urteile war Berufung eingelegt worden, das Gericht kam jedoch bis heute zu keiner Entscheidung. Unter den freigelassenen „gemeinen" Verbrechern, über die die türkische Presse nun täglich berichtet, ist etwa der Mörder einer Istanbuler Studentin, der erstinstanzlich zu fünf Jahren verurteilt worden war, oder Ali Tamkoşar, der bereits zweimal in den Genuss allgemeiner Amnestien kam (1993 unter Staatschef Turgut Özal, 1999 unter Regierungschef Bülent Ecevit) und jedes Mal einen weiteren Mord beging.

Die türkische Regierung ist nun bemüht, den Schaden zu begrenzen, den sie mit dem neuen Artikel 102 angerichtet hat. Dieser sieht vor, dass die maximale Haftzeit ohne letztinstanzliche Verurteilung bei schweren Strafverfahren drei Jahre beträgt und eineinhalb für andere Verfahren. Die chronische Überlastung der türkischen Gerichte ist dabei von der Regierung mitverursacht, so stellen Kommentatoren nun fest: Weil die konservativ-muslimische AKP dem kemalistisch geprägten Justizapparat misstraute, wurde eine Vielzahl von Richter- und Staatsanwaltstellen nicht besetzt. Bis Ende des Jahres sollen jetzt regionale Berufungsgerichte geschaffen und knapp 1000 Richter und Staatsanwälte dort beschäftigt werden.

Den freigelassenen Terroristen der Hisbollah wird die Folterung und Ermordung von 188 Menschen zur Last gelegt, darunter der islamischen Feministin und Schriftstellerin Konca Kuriş. Die Männer müssen sich - wie die anderen nun freigekommenen Häftlinge - täglich bei der Polizei melden. Doch illegal über die Grenzen nach Syrien oder den Iran zu kommen, so stellen Kommentatoren fest, ist kein allzu großes Kunststück ...

Nachtrag: Zehn Tage nach der Freilassung der Hisbollah-Terroristen ordnete das Berufungsgericht am Freitag, 14. Jänner, die erneute Verhaftung der Männer an. Das Problem: Drei von ihnen, darunter der Anführer Edip Gümüs, sind bereits verschwunden. Einer der Hisbollah-Anwälte, Hüseyin Yilmaz, hatte zuvor erklärt, seine Mandanten würden keine weitere Haftstrafe antreten.