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"Ich wurde gewarnt: Hau ihm das hin - bevor er dich hinaushaut", sagt Androsch über Kreisky.

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STANDARD: Welche Erinnerung schießt Ihnen zum 100. Geburtstag Kreiskys als erste durch den Kopf? Jene an den großen Staatsmann oder jene an den Intrigenschmied, der - wie Sie meinen - eine politische Treibjagd auf Sie eröffnet hat?

Androsch: Ich unterscheide zwischen zwei Kreiskys: Dem gesunden und dem kranken. Schon zu Amtszeiten war seine Gesundheit angeschlagener, als wir wussten.

STANDARD: Wie haben Sie den gesunden Kreisky in Erinnerung?

Androsch: Als charmanten Mann, der dank seiner sonoren Stimme und seiner Kultiviertheit auch in der Damenwelt Wirkung entfaltet hat. Sein Innerstes hat er nicht vielen Menschen geöffnet - auch mir nicht. Politisch war der gesunde Kreisky schlichtweg genial.

STANDARD: Inwiefern?

Androsch: Kreisky verfügte über ausgeprägte Überzeugungs-, Gestaltungs- und Integrationsfähigkeiten. Bereits in der Opposition ließ er zu allen Themen Programme erarbeiten. Er hat die Aussöhnung der SPÖ mit der katholischen Kirche erreicht, den Habsburgkannibalismus beendet und die rote Katze ein für allemal verbannt. Damit hat er ein Signal der Öffnung gesetzt, das in dem Motto gipfelte, mit ihm und seiner Partei ein Stück des Weges zu gehen.

STANDARD: Warum war gerade Kreisky dafür prädestiniert?

Androsch: Dabei spielten zweifellos seine großbürgerlichen Wurzeln eine Rolle, seine Erfahrungen in der Emigration und sein großes Interesse an Kultur.

STANDARD: Was kann man von Kreisky lernen?

Androsch: Dass Politiker Visionen brauchen, um daraus eine Orientierung abzuleiten, die man den Menschen vermitteln kann - das schafft Vertrauen. Doch diese Visionen vermisse ich heute bei den Regierenden in ganz Europa. Die Krise des Euro ist zum Beispiel ein Symptom dafür, das sich die EU durch Perspektivlosigkeit ins Gerede gebracht hat. Angesichts der Globalisierung brauchen wir mehr Europa - und nicht weniger.

STANDARD: Wie wäre Kreisky mit der aktuellen Krise umgegangen?

Androsch: Die Wirtschaft ist nicht das beste Beispiel - die war wirklich nicht sein Hauptmetier. Wenn die Wirtschaftspolitik der Siebziger erfolgreich war, was uns heute noch international bescheinigt wird, dann war das vor allem auf unser Bildungs- und Konjunkturprogramm als Investition in die Zukunft zurückzuführen, aber auch auf die Hartwährungspolitik, die ich als Finanzminister mit Unterstützung von Notenbank und Gewerkschaft durchfechten musste.

STANDARD: Wenn ein Politiker heute sagen würde, ein paar Milliarden Schulden bereiteten ihm weniger Sorgen als ein paar hundert Arbeitslose - würden Sie da nicht als Erster aufschreien?

Androsch: Kreisky sprach meines Wissens von hunderttausenden Arbeitslosen - und er hatte mit seinem Befund durchaus recht. Am Beginn der derzeitigen Krise habe ich genau das gleiche Prinzip empfohlen. Nur: Defizit ist nicht gleich Defizit. Damals haben wir Defizite in Kauf genommen, um zukunftsgerichtet Investitionen zu tätigen, es waren nie mehr als 60.000 Menschen arbeitslos gemeldet. In der Zwischenzeit haben sich die Haushalte zweifach verschlechtert: Quantitativ durch höhere Schuldenberge. Qualitativ, weil nicht in Infrastruktur oder Bildung investiert wurde, sondern in laufende Konsumausgaben - von üppigen Beamtengehältern bis zu den Frühpensionen.

STANDARD: Was blieb von Kreisky?

Androsch: Die Modernisierung des Strafrechts und die Reformen an den Universitäten wirken ebenso nach wie der Wohlstandsschub und der Ausbau des Sozialstaates, der nun aber überdehnt wurde.

STANDARD: Warum hat ein jüdischer Exilant vier ehemalige NS-Mitglieder ins Kabinett geholt?

Androsch: Die Spätgeborenen sollen sich im Gebrauch von Moralinsäure zurücknehmen. Wer damals nicht gelebt hat, soll sich vor Urteilen hüten. Von meinem Freund Erwin Frühbauer, einem der angesprochenen Minister, weiß ich, dass man in die NSDAP eingeschrieben werden konnte, ohne das gewusst zu haben.

STANDARD: Die Regel war das laut Historikern nicht.

Androsch: Fragt sich, laut welchen. Es gibt auch Historiker, die Vorurteile pflegen. Nach jeder Diktatur gibt es einen Reintegrationsbedarf, will man nicht auf ewig eine gespaltene Gesellschaft. Dies bedeutet nicht, dass jene an den Schaltstellen der Macht nicht zur Verantwortung gezogen werden sollten. Die Vorwürfe an Kreisky aber gehen in dieser Sache ebenso daneben wie im Konflikt mit Simon Wiesenthal...

STANDARD: ... der Kreiskys Kabinett kritisiert hat und von ihm dafür Kollaboration mit dem NS-Regime unterstellt bekam.

Androsch: Kreiskys hatte sich in der Form vergriffen, nicht aber in der Sache: Wiesenthal wollte Innenpolitik machen, und das stand ihm nicht zu. Er war ja auch nicht dieser Eichmann-Jäger, als der er sich darstellen ließ - das waren vielmehr ein hessischer Staatsanwalt und der Mossad. Dass Kreisky im Laufe des Konflikts die Contenance verlor, hängt ebenfalls mit seiner Krankheit zusammen.

STANDARD: Lässt sich Kreiskys Bruch mit Ihnen nur pathologisch erklären?

Androsch: Tiefenpsychologisch war das auch ein Generationenkonflikt: Der Ältere denkt an die nächsten Wahlen, der Jüngere naturgemäß zehn oder 20 Jahre voraus. Daraus resultierte auch ein Prestigeproblem. Wenn der Leithammel verhindert ist, und sei es durch eine Krankheit, entsteht ein Vakuum. Es kommt zu Eifersüchteleien, die zusätzlich von außen geschürt werden, der Ältere vermutet Verschwörungen.

STANDARD: War es nun die vielzitierte Vater-Sohn-Beziehung?

Androsch: Meine Frau hat das treffend so charakterisiert: "Für dich war er nicht der Vater. Aber Du warst für ihn wohl der Sohn, den er sich gewünscht hat."

STANDARD: Der dann nicht den vorbestimmten Weg gehen wollte - und womöglich Demut vermissen ließ, als er den Job des Notenbankchefs der Politik vorziehen wollte.

Androsch: Das war schon ein Ausfluss unseres zerbrochenen Verhältnisses. Im Juli 1979 hat mich Karl Waldbrunner, einst Vize-SPÖ-Chef, bei einem Spaziergang am Grundlsee gewarnt: "Hau ihm das hin - bevor er dich hinaushaut." Zu diesem Zeitpunkt ging das aber nicht: Die SPÖ hatte gerade die dritte Wahl mit absoluter Mehrheit gewonnen, ich führte als Vizekanzler die Regierung, weil Kreisky rekonvaleszent war.

STANDARD: Ihnen wurde auch unsozialistischer Lebensstil unterstellt.

Androsch: Da habe ich ihn vielleicht zu sehr nachgeahmt - zumindest was die Kleidung anbelangt. Ob Anzüge, Hemden, Schuhe, Krawatten: Kreisky hat alles nach Maß getragen.

STANDARD: Besaßen Sie wirklich die 108 Anzüge, die damals für Schlagzeilen sorgten?

Androsch: Wenn man einen Dreiteiler aus Hose, Jacket und Gilet als drei Anzüge rechnet, dann ja.

STANDARD: Haben Sie jemals versucht, sich zu versöhnen?

Androsch: Leonhard Bernstein, der mit uns beiden befreundet war, hat es versucht. Am jüdischen Feiertag Yom Kippur lud er mich und Kreisky ins Bristol ein. Bernstein verwies auf die Tradition der Versöhnung an diesem Tag. Kreisky ging darauf nicht ein - worauf Bernstein nie wieder mit ihm geredet hat.

STANDARD: Bedauern Sie, es selbst nicht versucht zu haben?

Androsch: Kreisky war von einem alttestamentarischen Hass auf mich erfüllt - aber er brach bekanntlich nicht nur mit mir. Leider verbrachte er in seiner Verbitterung einen traurigen Lebensabend.

STANDARD: Es gab es sogar Witze über Sie beide. Kennen Sie einen?

Androsch: Kreisky sitzt beim Frisör, der pausenlos nur über mich spricht. Fragt Kreisky: "Warum reden Sie dauernd über den Androsch" . Sagt der Frisör: "Ich kann Ihre Haare besser schneiden, wenn sie Ihnen zu Berge stehen." (Gerald John/DER STANDARD-Printausgabe, 8./9.1.2011)