Eltern und Kinder, melancholische Bilanz einer Entfremdung: Setsuko Hara (li.) und Chishû Ryû in "Die Reise nach Tokio / Tôkyô Monogatari" aus dem Jahr 1953.

Foto: Filmmuseum

Dreh- und Angelpunkt ist häufig das Zerbröseln traditioneller Familienverbände.

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Wien - Ein verlorener kleiner Bub wird eines Abends in einem Haus abgegeben, wo man ihn nicht haben will. Eine alte Frau erbarmt sich schließlich, aber am nächsten Morgen findet sie seine durchnässte Matratze und ein neues Argument gegen seinen Verbleib. Die Nachbarn losen also, wer Nachforschungen nach Angehörigen des Kleinen anstellen soll. Ein zweites Mal wird Frau Tane die Verantwortung zugeschlagen.

Am Strand, bei jener Siedlung, wo der Vater des Buben nicht mehr zu finden ist, entspinnt sich ein weiterer stummer Machtkampf zwischen der Frau und ihrem ungeliebten Schützling. Keine List hilft, keine harsche Zurückweisung ("Ich beiß' dich!") - der Knirps rennt ihr wortlos hinterher, er ist unbeirrbar. Erschöpft versucht sie es noch bei einer alten Freundin: "Brauchst du nicht einen Buben?" - "Nein, ich brauche einen Gummischlauch."

Auflösungserscheinungen

Es ist das Jahr 1947, der Zweite Weltkrieg, der mit der japanischen Kapitulation im August 1945 endete, ist noch gegenwärtig - nicht nur in Form von zerfallenen Häuschen und zerrissenen Hosen. Auch gesellschaftliche Verbundenheit und Verbindlichkeiten sind scheinbar aufgelöst. An Mitmenschlichkeit und an die eigene, sorglosere Kindheit muss man sich erst wieder aktiv erinnern. Von diesem Prozess handelt Erzählungen eines Nachbarn (Nagaya shinshi-roku), einer von vielen Filmen des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu, in denen Kinder, fern aller Sentimentalität und Verzückung, eine ganz besondere Rolle spielen.

Erzählungen eines Nachbarn zählt zu jenen weniger bekannten Filmen Ozus, die man ab sofort neben Klassikern wie Die Reise nach Tokio/ Tôkyô Monogatari (1953) im Österreichischen Filmmuseum entdecken kann. Er wird als ein Übergangsfilm zum Spätwerk erachtet, welches in den verschiedensten Variationen das (Abhängigkeits-)Verhältnis zwischen den Generationen, häufig zwischen Vätern und ihren erwachsenen Töchtern auslotet. Aber schon in den Kleine-Leute-Studien der Vorkriegsjahre sind die traditionellen Familienverbände häufig zentraler Bezugspunkt für die komischen oder bitteren Erfahrungen ihrer Helden.

Begonnen hat Ozus Karriere in den 1920er-Jahren beim Studio Shôchiku. Er arbeitete zunächst in anderen Funktionen, 1927 inszenierte er seinen ersten eigenen Film, 1962 mit Ein Herbstnachmittag (Samma no aji) seinen letzten. Der Regisseur starb 1963, am Tag seines sechzigsten Geburtstags, an Krebs. Insgesamt hat er bei mehr als fünfzig Filmen Regie geführt, - rund zwei Drittel davon sind heute noch erhalten und bis 7. Februar in Wien zu sehen. Erst posthum entwickelte sich Ozu neben Zeitgenossen wie Akira Kurosawa auch international zur fixen Größe im Filmkanon. Sein Werk wurde häufig zum Gegenstand filmwissenschaftlicher Studien. Ein prominenter Kenner, der US-Autor und Regisseur Paul Schrader, wird am 17. Jänner eine Einleitung zu Ein Herbstnachmittag geben.

Formal kennzeichnet Ozus Arbeiten ein konzentrierter Blick, ein gefasster Stil. Die traditionelle japanische Architektur und Raumgestaltung mit ihren klaren, linearen Strukturen fungieren als Rahmen für die Figuren. Die Kamera ist tiefer gelegt, nah am Boden, und meist unbewegt. Die Montage punktiert die Erzählung mit "leeren" Bildern, kleinen Stillleben, in denen das Geschehen kurz zur Ruhe kommt.

In Erzählungen eines Nachbarn geht Frau Tane einmal mit dem Buben zum Fotografen. Ihr gemeinsames Porträt erscheint bildfüllend auf den Kopf gestellt. Danach sieht man das Fotostudio, aus dem die Menschen verschwunden sind: Die schweren Scheinwerfer, die das Sofa flankieren, den Hintergrundprospekt mit einer zarten, aufgemalten Blätterranke. Das Bild des Glücks wird ganz dezent von einer Ahnung überlagert, dass es nicht andauern wird. (Isabella Reicher, DER STANDARD - Printausgabe, 8./9. Jänner 2011)