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Nähe und Kommunikation herstellen und dennoch mobil, flexibel, selbstständig und unabhängig sein: Der Spagat, den das Individuum machen muss, wird immer größer.

Foto: APA/HANS KLAUS TECHT

"Ich bin nie allein mit meiner Einsamkeit" , sang dereinst Georges Moustaki. Klaus hört dieses Lied auf einer Geburtstagsparty im Loft einer Freundin. Einsamkeit sei romantische Attitüde der Künstler, Außenseiter, Sonderlinge, Eremiten, jener Menschen, die schöpferisch sind und mit sich selbst ein Abenteuer suchen, sagt Claudia, die froh ist, endlich ein Gesprächsthema gefunden zu haben.

Für ihn habe dieses Gefühl nichts mit Schöpferischem zu tun, antwortet Klaus. Dann dreht er sich um und verschwindet auf die Terrasse. Claudia holt ihn zurück. "Es ist Mitternacht, die Torte kommt, wir müssen singen." Er bleibt blass, wie geschockt und schweigsam. Viel später erzählt er unter vier Augen und dem Siegel der Verschwiegenheit, es habe ihn plötzlich eine schreckliche Verlassenheit überkommen, trotz all des Trubels. Er habe von der Terrasse aus über das Lichtermeer der Stadt geblickt und wäre kurz am liebsten ins Nirwana gestürzt.

In dieser Nacht wollte er auch der Zukunft ins Auge schauen. Er habe die Kartenlegerin, einen amüsanten Party-Aufputz, aufgesucht und prompt die Tarot-Karte Nummer neun gezogen: den Eremiten, das Bild eines alten Mannes mit einem Stab und einer Laterne.

Die Karte bedeutet die "Notwendigkeit, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen, um sich mit dem Selbst wohlzufühlen, aber aus der Isolation herauszutreten, das eigene Wissen mit anderen zu teilen. Der Eremit steht für eine wesentliche Stufe in der menschlichen Entwicklung zur Reife und verkörpert beides: Einsamkeit und auch Alleinsein. Beide werden oft in einem Atemzug genannt, sind aber substanziell verschieden. Alleinsein ist die phänomenologische Beschreibung eines Zustandes und als Gefühl neutral, Einsamkeit hingegen impliziert eine Art von Sehnsucht" , sagt der Wiener Psychoanalytiker Felix Mendelssohn. "Man denke an die Bilder von Caspar David Friedrich, wo man aufs Meer hinausschaut - damit ist immer ein Gefühl von Sehnsucht verbunden, nach etwas, wovon man doch abgetrennt ist, was einem fehlt. Vielleicht ist es auch ein Teil der conditio humana, denn nach einigen psychoanalytischen Ansichten dreht es sich um etwas, was für immer verloren ist, um eine Art Zweisamkeit mit der Mutter, dem ersten Liebesobjekt, um das Empfinden von kosmischer Geborgenheit."

Die Art, wie ein Mensch mit Einsamkeit umgeht, hängt mit dem Reichtum der inneren Welt zusammen. Im Grunde hat jeder den Wunsch, für sich allein zu sein und nicht erreicht zu werden. Gleichzeitig lässt Alleinsein jenes Gefühl aufkommen, das Klaus als unerträgliche Verlassenheit und Leere erfährt. Also bemühen wir uns, diese Empfindung abzuwehren. Zum einen, wie Mendelssohn erklärt, "durch übertriebene Abhängigkeit von einer äußeren Person, die uns hilft, Einsamkeit fernzuhalten, zum anderen durch übertriebene Unabhängigkeit, die es in Wahrheit nicht gibt" .

Im Alltag sammeln sich um den Begriff Einsamkeit unterschiedliche Realitäten: Da sind die Singles - getrennte, geschiedene, verwitwete Personen-, Alte oder Menschen, die sich unter Kollegen, bei rauschenden Festen, in der Familie oder Zweierbeziehung einsam fühlen. Am meisten verlassen und alleingelassen fühlen sich - laut Untersuchungen - verheiratete Frauen. Es klingt paradox, dass wir im Zeitalter der Kommunikation einen Überhang an Austausch zwischen Individuen erleben und dass sich gleichzeitig die Zeichen quälender Verlassenheitsgefühle mehren. Innerhalb von 30 Jahren hat sich die Zahl der Alleinlebenden in unseren Breiten verdoppelt, sagt uns die Statistik, ebenso, dass in Europa rund 158 Millionen Menschen allein leben - Tendenz rapid steigend. Von aktuell einer Million Singles in Österreich klinken sich 700.000 in die Internet-Partnersuche ein.

Paradox ist auch, dass Einsamkeitsgefühle in der Kommunikationsgesellschaft tabuisiert werden, weil ein reiches Beziehungsnetz aus guten Freunden einen Teil des Status ausmacht. Denn Einsamkeit ist eine Realität, die sich nicht mehr verdrängen lässt. Sie steht für eine neue Lebensform, behauptet die französische Psychotherapeutin und Bestsellerautorin Marie-France Hirigoyen in ihrem Buch Solotanz - Anleitung zum Alleinsein. Sie sieht eine neue Generation mit völlig neuen Lebensentwürfen, als Folge eines tiefgreifenden anthropologischen Wandels vom 20. ins 21. Jahrhundert. Eine Generation, die sich freiwillig fürs Alleinsein entscheidet. Der Bogen spannt sich von der Einsamkeit als Antwort auf gesellschaftlichen Uniformitätsdruck über sexuelle Abstinenz bis zur Partnerschaft in getrennten Wohnungen. "Glück und Unglück dieser Lebensform" firmieren jedoch vor schmerzhaften Hintergründen, weil dieser Prozess in krassem Widerspruch steht zu den medialen Bildern von romantischer Liebe, geglückter Paarbeziehung, heiler Familie oder enger Seelenfreundschaft.

Der Spagat, den das Individuum machen muss, wird größer. Wer Nähe und Kommunikation herstellen kann, gilt als gesellschaftsfähig, aber Selbstständigkeit, Flexibilität, Mobilität und Unabhängigkeit werden als Basis für Individualität verlangt. Die Schwierigkeit ist: "Verschmelzung oder Unzertrennlichkeit, die eine romantische Liebe fordert, mit dem Freiraum, der eine individuelle Erfüllung erlaubt, harmonisch abzustimmen" , so Hirigoyen. Aber das wird immer schwieriger. Nicht nur die Zunahme der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, wie Mendelssohn diagnostiziert, trägt zur Vereinzelung bei. Auch die Familienstrukturen sind im Umbruch. "Zu Zeiten eines Sigmund Freud lebten bis zu zehn Personen in einem Haushalt, und das konnte genügend Beziehungskonflikte provozieren. Heute dominiert das andere Extrem: Man wird vor dem Fernseher allein gelassen."

Der Wandel in der Familienstruktur bzw. in der Paarbeziehung wurde hauptsächlich von den Frauen herbeigeführt. Nicht von ungefähr reichen Frauen in 70 Prozent der Fälle die Scheidung ein. Die Frauen der vorigen Generation haben versucht eine gute Arbeitskraft, eine tolle Mutter und attraktive Liebhaberin zu sein; die neuen, vor allem die hochqualifizierten im städtischen Umfeld neigen bewusst zum Alleinsein. Nicht mehr die Liebe ist das Wichtigste, sondern Erfolg im Beruf.

Der zweite Aspekt - neben der ökonomischen Eigenständigkeit - ist die Trennung von sexueller Lust und Fortpflanzung, ein dritter die Identitätskrise der Männer, die zwischen Angst vor zu viel Nähe und zu viel Distanz pendeln.

Vielleicht hat Hirigoyen recht, wenn sie behauptet, die Liebe habe ihre Kraft verloren. "Wir verhalten uns wie anspruchsvolle Konsumenten, wir wollen das Beste zu niedrigsten Preisen" , sagt sie - und damit sind wir schon beim Faktor Arbeitswelt, die, hart geworden, alle Energien absorbiert und Ängste vor Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit mobilisiert.

Viel verantworten auch die neuen Medien - im Guten wie im Schlechten. Einerseits ist das Leben im Chat, mit Onlinedatings und Wegwerfpartnern bequemer. Warum sich mühsam eine Beziehung erarbeiten? Ein Click genügt, und ein maßgeschneidertes Dating flattert ins Haus. Das Internet verführt zum Rückzug in eine Fantasywelt - hilft aber zugleich, die Einsamkeit des menschenleeren Wohnzimmers aufzubrechen.

Mit dem freiwillig gewählten Rückzug als Lebensform kristallisieren sich auch bestimmte Partnerschaftstypen heraus, etwa die "leidenschaftslosen" . Menschen, die unfähig sind zu fühlen, die aus Angst vor emotionaler Abhängigkeit oder vor der Vielzahl an Möglichkeiten in affektive Gleichgültigkeit flüchten. "Es geht darum, das Begehren zum Erlöschen zu bringen" , so Hirigoyen, und um ein ungebundenes Glück, das nicht von einem Partner zerstört werden kann. Eine andere Gruppe entscheidet sich für ein Leben ohne Sex, weil es ihr an Libido mangelt oder weil erfüllte Sexualität zur Norm geworden ist. "Man findet in der Sexualität dasselbe anspruchsvolle Verbraucherverhalten wie auf anderen Märkten" , schreibt sie, "heutzutage muss Lust gewährleistet sein."

Gerade Konsumhaltung kann ein positives Image von Einsamkeit entstehen lassen: als Freiraum für Nachdenkprozesse und kreative Freiheiten. Ist die Antwort auf die hyperaktive Gesellschaft nicht immer häufiger das Bedürfnis nach Innehalten, Weite und Luft, der Wunsch, sich auf die wesentlichen Dinge des Lebens zu konzentrieren? Ist letztlich nicht jeder für sich allein?

Einsamkeit als Lebensform muss nicht zwangsweise trostlos sein. So sieht Mendelssohn im Sich-zugehörig-Fühlen eine Chance, mit quälenden Einsamkeitsgefühlen umzugehen, in der Gruppe, mit der man Interessen teilt, seine Feiern und seine Auseinandersetzungen hat. "Je kleiner die Gruppe" , meint der Psychoanalytiker, desto größer sei auch "der Schutz und das Gefühl: Jetzt ist es privat."

Apropos Gruppe: Klaus hat sich inzwischen in ein Lesetheater eingeklinkt. Da werden in einer Zwölfpersonenrunde regelmäßig Theaterstücke gelesen und diskutiert. Mit verteilten Rollen. Klaus ließ bisher kein Treffen aus. (Sybille Fritsch, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 8./9. Jänner 2011)