In den folgenden Zeilen geht es nicht um die strafrechtliche Inkriminierung des Julian Assange - ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die Berichterstattung in der Zeit, die den landläufigen Vergewaltigungsvorwurf in einem anderen Licht erscheinen lässt. Lassen wir auch beiseite, dass vielleicht nur ein Bruchteil der diplomatischen Depeschen wirklich Neues zutage gefördert hat. Betrachten wir ausschließlich jenes Echo, das sich an die bisherigen Wikileaks-Veröffentlichungen anschloss.

Das Vorgehen von Julian Assange & Co wird auf breiter Front gegeißelt - "unnötig" bis "gefährlich" lauten die Urteile. Kaum jemand bricht eine Lanze für jenen Akteur, der schlicht das ermöglicht, was in Sonntagsreden immer so hochgehalten wird: freie Information für freie Bürger! Ans Licht mit den Missständen!

Befremdlich an den seit der ersten Veröffentlichung kursierenden Statements ist nicht die Erregung selbst. Auch nicht die Ablehnung durch die unmittelbar Involvierten - die scheint ganz natürlich: Jeder glaubt gute Gründe zu haben, dass gerade sein kompromittiertes und kompromittierendes Handeln notwendig und im Dienste höherer Zwecke gerechtfertigt ist. Befremdlich ist vielmehr, dass der Veröffentlichung dieser geheimen Dokumente weniger mit analytischem Interesse, sondern mit moralischem Urteil begegnet wird. Stark verkürzt könnte man viele Kommentare in dem Satz zusammenfassen: "So etwas tut man nicht!"

Demokratietheoretisch ist "so etwas" jedoch genau die Aufgabe der Publizistik - in welcher Form sie uns im Zeitalter der neuen Medien auch immer begegnet. Die interessanten und relevanten politischen Informationen sind immer die, die man uns nicht freiwillig erzählt. Wäre dem so, könnten wir allen Journalismus abschaffen und unsere Morgenzeitung und unsere Abendnachrichten automatisiert per Internet aus den diversen PR-Outlets der Mediengesellschaft zusammenstellen lassen.

Es scheint sich bei der Kritik um einen Motivirrtum zu handeln: Hate the game, not the player! möchte man ausrufen. An der schlechten alten Tradition, dass dem Überbringer der üblen Nachricht Schuld gegeben wird, hat sich offenbar auch im digitalen Zeitalter nichts geändert. Das Schöne ist doch: Es kann uns egal sein, welche Agenda Wikileaks hat; es braucht uns nicht zu kümmern, welchen Narzissmus Assange auslebt. Das ist ein Charakteristikum unserer Zeit: Alles, was kommunizierbar ist, wird kommuniziert werden. Und die eherne, demokratische Maxime dahinter lautet: Lieber zu viel Information als zu wenig. Allein schon deshalb, weil wir niemals darüber Konsens erreichen werden, wer mit der Autorität des Gatekeeping ausgestattet sein soll.

Auf der Suche nach grundlegenden Prämissen der Qualität journalistischer Arbeit identifiziert der Medienforscher Horst Pöttker eine zentrale professionsethische Anforderung: Es ist die Pflicht des Journalisten, veröffentlichen zu wollen. Das Nicht-Publizieren, so lässt sich daraus schließen, ist begründungspflichtig, nicht umgekehrt. Das gilt auch für Wikileaks. Dass "der Westen" jetzt mit diesem seltsam-flauen Schamgefühl zurechtkommen muss, das uns immer dann ereilt, wenn wir bei etwas Zweifelhaftem ertappt wurden, das müssen Demokratien aushalten. Selbstkritik und offene Diskussion wären die richtigen Antworten, statt auf den Überbringer der schlechten Nachricht einzuprügeln. Nicht die unüberprüfbaren Vorwürfe gegen die Privatperson Assange sollten unseren Unmut erregen, sondern die unverhohlenen Attacken auf Wikileaks - Abschaltung der Website, finanzielles Ausbluten ... Denn sonst ist morgen wieder alles beim Alten - nur dass wir's dann vielleicht nicht mehr erfahren. (Marian Adolf/DER STANDARD, Printausgabe, 24.12.2010)