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Erfahrung macht weise

Foto: REUTERS/Luke MacGregor

Mit dem Philosophen Rudi Ott versucht Hartmut Volk die lebenspraktische Bedeutung des großen Wortes zu ergründen.

STANDARD: Professor Ott, Weisheit als Lebenshilfe bedeutet?

Ott: Gelassenheit, Distanz zu den Dingen. Vor allem aber zu sich selber, den umtreibenden spontanen Gefühlsaufwallungen, den inneren Regungen und Stimmungen. Zur weis(er)en Lebensführung gehört das Wissen um die Polarität und die Komplexität dessen, was uns täglich begegnet: dass nichts nur Schwarz oder nur Weiß, nur gut oder schlecht, nur nützlich oder nur schädlich ist, dass die Welt erheblich vielschichtiger ist, als sie von einer eiligen, ganz auf den Moment gestellten Berichterstattung meist dargestellt wird. Weisheit als Lebenshilfe schützt vor unbedachtem und unterstützt bedachtes Tun.

STANDARD: Wo, womit beginnt der Weg zu diesem Ziel?

Ott: Mit der Bereitschaft, sich umfassendes sachbezogenes Wissen zu erarbeiten und zu pflegen. Die Bereitschaft dazu und das Bemühen darum ist Voraussetzung dafür, tatsächliche Einsicht in die Struktur und Abläufe der Aufgaben- und Problemfelder des Lebens zu gewinnen und laufend zu verbessern.

STANDARD: Ohne Wissen also keine Weisheit?

Ott: Ja und nein! Wir leiten den Fortschritt unseres Lebensstandards aus dem exponentiell gewachsenen Wissen ab. Weil wir das tun, sind wir zu sehr auf die Kenntnis der wissenschaftlichen Fakten fixiert. Wissen ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für eine weise(re) Lebensführung. Darauf und auf die Grenze allen objektiven Wissens wies schon der Philosoph Ludwig Wittgenstein mit aller Deutlichkeit hin: "Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind."

STANDARD: Das heißt?

Ott: Dass alles Wissen in keiner Weise die Frage nach der Zielsetzung des Lebens klärt. Der amerikanische Psychologe Jerome Bruner hat das Problem ironisch treffend so formuliert: "Wenn ich nicht weiß, wohin ich will, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn ich ganz woanders ankomme." Sache der Weisheit ist die Frage nach den konkreten Zielen und Werten des menschlichen Daseins. Ihr kann und sollte sich jeder stellen. Deshalb muss die äußere Sachbezogenheit, sprich das Bemühen um bestmögliches Wissen, um die Gesammeltheit im Inneren ergänzt werden, damit Übersicht und ruhiges Nachdenken möglich werden. Die im Leben Halt und Ruhe gebenden Werte und Ziele offenbaren sich nur, indem ich mich um diese Wendung nach innen bemühe. Vermutlich ist dieses intuitive Wissen darum auch ein Grund dafür, dass in verunsichernder Zeit Weisheit plötzlich wieder im Gespräch ist.

STANDARD: Die moderne Gesellschaft versteht sich als Wissensgesellschaft. Greift das nicht zu kurz und führt in die Irre?

Ott: Aus der Sicht des Theologen wie des Philosophen legen Sie den Finger in eine offene Wunde. Wissen repräsentiert gesicherte Ergebnisse der Forschung und bewährter Praxis. Darin unterscheidet es sich von Sinneswahrnehmung, Meinung und Vorstellung. Auf rationale Weise, meist nach naturwissenschaftlichen Methoden, wird exaktes Wissen über die Wirklichkeit gesammelt und kritisch denkend verarbeitet, damit wir unsere Absichten bei der Realisierung besser steuern können. Dabei treten zwei unüberspielbare Probleme auf: 1.) Was leistet eigentlich Wissenschaft, was nicht? Und 2.) Auf welche Ziele und Absichten wird das Wissen konkret ausgerichtet? Wirklichkeit zeigt sich nämlich als Möglichkeit für die Realisierung vielfältiger Absichten, und Wissen ist für vielerlei nutzbar. Zur ersten Frage hat wiederum Wittgenstein eine grundlegende Einschätzung abgegeben: "Es ist eine große Täuschung zu meinen, dass die Naturwissenschaften die Welt erklären könnten. Sie sind vielmehr selbst erklärungsbedürftig. Naturgesetze beschreiben Regelmäßigkeiten in der Natur – aber woher diese kommen, erklären sie nicht. Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen."

STANDARD: Im Blick auf die Weisheit heißt das?

Ott: Wissen dient dem Leben. Keine Frage. Wir erwerben uns damit die äußeren Ressourcen für die Lebensbewältigung. Nicht aber die notwendigen inneren Ressourcen. Aufgabe der Weisheit ist es, die Grenzen allen Wissens aufzudecken. Denn es geht ja um die zweite Frage: Wissen wir denn, was wir wollen? Der Verstand besitzt Wissen um Abläufe, Mechanismen, Funktionen. Weisheit bezieht sich auf die Entscheidung über die konkreten Ziele und Werte des Menschseins jedes Menschen, zuletzt auf die Frage, was der Mensch, das Leben und die Welt selbst sind. Das Werk von Weisheit ist die von innen her bestimmte Güterabwägung, die nach dem für das Menschsein bestmöglichen Handeln fragt und zerstörerischen Denkkonstruktionen vorbeugt und sie abweist.

STANDARD: Ein Wort zu dieser Güterabwägung.

Ott: Sachgerechte Entscheidungen, vornehmlich wenn sie die eigene und andere Personen betreffen, findet man nur, wenn man die wirklichen Sachzusammenhänge gut kennt. Stimmungen, veröffentlichte Meinungen, Political Correctness im privaten und öffentlichen Raum sind selten gute Ratgeber. Weisheit ist: zu sich und seinem Handeln jederzeit stehen können – auch wenn es sich letztlich als Fehlgriff herausstellt. Scheitern zu können, ohne selbst zu scheitern, ist Ausdruck menschlicher Weisheit. Auch sich beraten zu können, gehört zur Klugheit als der Kerntugend von Weisheit. Daten und Zahlen sind angesichts des ständigen Wandels keine ausreichende Entscheidungsgrundlage im zwischenmenschlichen Bereich.

STANDARD: Kommt es darauf an, sich in die Lage zu versetzen, zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen unterscheiden zu können?

Ott: Weisheit beginnt mit der Unterscheidung zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen. Das Gegenteil von Weisheit ist Starrsinn, rechthaberisches Insistieren. Diese Unterscheidung ist kein festes Wissen, wir müssen sie vielmehr immer neu vornehmen. Kein Experte kann uns diese Aufgabe abnehmen, keine Methode erzeugt ein eindeutiges Ergebnis. Dazu gehört auch die Frage, ob die Dominanz des Marketings, die unser Denken derzeit bestimmt, für die Menschlichkeit unserer Kultur ein Gewinn ist. Es braucht Einigkeit darüber, dass bestimmte Humana nicht aus der Lebenswelt hinaus definiert oder nur in einseitiger Weise determiniert werden.

STANDARD: Das kann nur heißen, das Bemühen um Weisheit ist auch das Bemühen um ein selbstbestimmtes Leben?

Ott: Das Denken des modernen Menschen hat sich ganz auf die Außenorientierung und Objektivierung eingestellt. Dadurch ist der Mensch mehr und mehr den Strömungen der Zeit ausgesetzt. Und das Ergebnis heißt Selbstentfremdung. Diese Selbstentfremdung verhindert, dass wir die inneren Ressourcen, die jeder Mensch als Geistwesen in sich hat, zu nutzen lernen. Weisheit heißt zuerst: in Verbindung mit dem objektivierenden Denken den Bezug zu sich selbst oder die Sorge für sich selbst als polare Kraft gleichgewichtig aufzubauen, zum Beispiel im Alleinseinkönnen, im Naturerlebnis, in der Selbstreflexion und Meditation. So gewinnen wir auch den freundlichen Blick auf andere.

STANDARD: Die Chance, in unserer Zeit permanenten rasanten Umbruchs nicht die Orientierung und damit sich selbst zu verlieren, setzt Selbsterkenntnis voraus?

Ott: Selbsterkenntnis impliziert immer auch die Fähigkeit, sein eigenes Denken und Handeln ändern zu können, wenn es nicht mehr passt. Ich kann keine Probleme lösen, wenn ich mir nicht immer wieder Denkmuster aufbaue und pflege, die mir neue Möglichkeiten eröffnen. Dafür kann es keine Muster geben, sondern nur den Ratschlag des Philosophen Epiktet: "Zuerst musst du das leitende Prinzip in dir reinigen und dir folgenden Lebensplan zurechtlegen: Von heute an ist mein Geist das Material, an dem ich arbeite, wie der Zimmermann an seinem Balken!" Solche Weisheit macht kreativ: In der Sammlung wachsen Gelassenheit und nüchterne Betrachtung des Ganzen. Ich werde frei von inneren Zwängen. Offenheit und neues Denken über die Dinge des Alltags brechen sich Bahn. Seneca schrieb: "Niemand kommt als Weiser auf der Welt, sondern wird es erst" – allerdings nur dann, wenn er sich darum bemüht.

STANDARD: Muss der Mensch alt werden, um weise zu werden?

Ott: Dem alten King Lear lässt Shakespeare mitteilen: "Du hättest nicht alt werden sollen, eh' du weise geworden wärst." Man sagt oft, die Weisheit komme mit dem Alter. Shakespeare verschiebt den Akzent: Das lebenslange Bemühen um Weisheit ist die Voraussetzung für ein Älterwerden in Würde und Gelassenheit des Urteilens. Weisheit ist ein lebenslanger Lernprozess: Jede Situation stellt neue Aufgaben, und im Alter sind sie anders als in der Blüte der Jahre. Das Älterwerden ist noch keine Garantie für Weisheit. Es gilt vielmehr, die Denkkraft, den Geist in wachem Erkennen zu stärken; auch sie schwindet, wenn man nicht wie bei einer Öllampe Öl nachträufelt, wie Cicero sagte. Angesichts des Zerrinnens der Zeit mahnt Sören Kierkegaard: "Es gilt im Leben aufzupassen, wann das Stichwort für einen kommt." Es kommt darauf an, in jeder Lebenslage mit Achtsamkeit die Balance zwischen den äußeren Anforderungen und mir selbst, meinem Inneren einzuüben. Dann wird das Innere frei von fixen Mustern, und kreative Lösungen von Problemen können sich entwickeln. Das muss man einüben. (Hartmut Volk, DER STANDARD, Printausgabe, 24.-26.12.2010)