In einem fast dramatisch formulierten offenen Brief, kürzlich publiziert in der New York Times, rief Michail Gorbatschow Russlands Präsident Medwedew zum Handeln auf. Er solle den wirtschafts- und bildungspolitischen Niedergang des Landes stoppen und die Bewegung in Richtung einer wirklichen Demokratie beschleunigen. Zugleich rechnete er unmissverständlich mit der Putin-Ära ab.

Medwedew, nicht Putin, solle 2011 als das Jahr der "neuen Agenda" im Zeichen der Modernität und Offenheit gestalten und "die Gefahr der Degeneration der Stabilität in eine Stagnation" in Russland verhindern. All das, was der im Westen gefeierte, aber in Russland selbst nach wie vor als Zerstörer des Sowjetreiches abgelehnte Gorbatschow diesmal über die Entfremdung zwischen einer korrupten, unfähigen Elite und der kritischen Öffentlichkeit schrieb, wurde durch die jüngste Entwicklung bestätigt.

Jener starke Staat, den Putin so oft als Errungenschaft seiner Ära proklamiert, war während der jüngsten blutigen Zusammenstöße zwischen tausenden russischen Nationalisten und Fußballhooligans einerseits und Kaukasiern und Zentralasiaten andererseits in Moskau und anderen Städten im Alltag nicht sichtbar. Erst viel zu spät reagierte die politische Führung, und die Sondertruppen traten in Aktion. Es ging und geht um die Folgen einer seit längerer Zeit in der Innen- und Außenpolitik bewusst geförderten nationalistischen Ideologie.

Dass die aufgeputschten chauvinistischen und großrussischen Leidenschaften, vor allem unter den Jugendlichen allzu leicht der Kontrolle von oben entgleiten können, bewies zum Beispiel auch die Tatsache, dass in Stavropol ein Kirgise von einem 14 Jahre alten Schüler mit einem Messer ermordet wurde. Inzwischen haben die Sicherheitskräfte mehrere tausend junge Frauen und Männer in Moskau und Umgebung festgenommen.

Ob und wie weit eine nervöse Staatsmacht die ethnischen und gesellschaftlichen Spannungen für machtpolitische Zwecke und auch für die Diskreditierung der demokratischen Opposition zu instrumentalisieren versucht, muss dahingestellt bleiben. Ministerpräsident Putin hat jedenfalls in seiner vierstündigen landesweiten Fernseh-Sprechstunde die rechtsradikalen nationalistischen Aktionen und die gewaltfreien Auftritte der liberalen Oppositionellen fast im gleichen Atemzug verurteilt.

In diesen Rahmen fügen sich Putins Ausfälle gegen die "macht- und geldgierigen" politischen Gegner ebenso wie sein selbstentlarvender Kommentar zum bevorstehenden zweiten Prozess gegen Michail Chodorkowski. Russlands einst reichster Mann sitzt seit sieben Jahren hinter Gittern. Jetzt will man den vom Raubtierkapitalisten zum mutigen Reformer gewandelten Gegner mit dem irrsinnigen Vorwurf, er habe mehrere hundert Millionen Tonnen Erdöl von seiner eigenen Firma gestohlen, noch vor seiner im Oktober 2011 fälligen Entlassung wieder zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilen lassen. Mit den Worten "Ein Dieb gehört ins Gefängnis" hatte Putin noch vor dem für Jänner erwarteten Gerichtsurteil das Verdikt schon gesprochen. Gorbatschows Vorschläge für Bürgergesellschaft und Öffnung sind also ungehört verhallt. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 23.12.2009)