Wien - Wahrscheinlich tauchen in der Literatur deshalb so viele pubertierende Protagonisten auf, weil in diesem Alter alles noch so neu ist. Jener Lebensabschnitt, in dem die Hormone wüten und sich der dringende Wunsch manifestiert, in die große weite Welt aufzubrechen, gilt als ideale Spielwiese für Schriftsteller. Darauf können sie sich an ihrer Weltsicht reiben und daraus große, abenteuerliche Stoffe ziehen.
Zu den kleinen und großen Tragödien, die sich ereignen, wenn sich Verhaltensmuster noch nicht eingeschliffen haben, gewinnen Autoren selbst den Katastrophen noch heitere Seiten ab. Versuch und Scheitern liegen nahe beieinander. Was schiefgehen kann, geht schief. Es geht nicht darum, nicht durch eine Wand laufen zu können. Das ahnt man schon in frühen Jahren. Es geht darum, es trotzdem zu versuchen.
Der 2002 mit seinem in der Szene von Berlin-Mitte spielenden Roman In Plüschgewittern bekannt gewordene deutsche Autor Wolfgang Herrndorf hat sich nun dieses Themas angenommen. Mit Tschick veröffentlicht der 45-jährige einen äußerst unterhaltsamen wie gleichzeitig auch berührenden Jugendroman. Ähnlich wie die großen historischen Vorbilder Mark Twain in seinen Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn oder J. D. Salinger in Der Fänger im Roggen verwendet Herrndorf dabei das Reisemotiv, um vor dem Leser eine Entwicklungsgeschichte auszubreiten. Am Ende dieser sollen die Helden des Buches nicht nur prägende Erfahrungen gesammelt haben. Sie haben auch den Schritt ins Erwachsenenalter gemacht.
Der Titelheld Tschick ist ein russlanddeutsches Einwandererkind, das neu an eine Ostberliner Schule kommt. Er stammt aus klischeeverdächtig armen Verhältnissen, ist hochbegabt wie sozial wegen seiner Aggressivität schwer vermittelbar. Er trifft auf Maik, einen, wie man so sagt, eher verhaltensunauffälligen Buben aus dem Speckgürtel. Sein Vater ist ein Hasardeur, die Mutter Alkoholikerin. Tschick und Maik gelten in der Schule als Außenseiter. Zusammen machen sie sich mit einem gestohlenen Auto auf, um einen ominösen Onkel in der Walachei aufzuspüren.
Auch für Erwachsene
Was die beiden 14-Jährigen auf dieser als Roadmovie getarnten Flucht im wilden Osten erleben, rührt nicht nur zu Tränen. Mit einfacher wie klarer, dem heutigen Neusprech der Jugend nachempfundener Sprache wird der Leser Zeuge bizarrer Begegnungen mit sogenannten Originalen (auch hier eindeutige Parallelen zu Mark Twain). Es wird auf sie geschossen. Sie begegnen einem starken wie klugen Mädchen, das auf einer Müllhalde lebt - und auch die Exekutive beginnt sich für sie zu interessieren. Das alles findet in Landschaften statt, die man am besten als dunkel und wildromantisch bezeichnet.
Wolfgang Herrndorf, der einen ebenso empfehlenswerten Blog namens "Arbeit und Struktur" (unter anderem über seine Krebserkrankung) betreibt, ist mit Tschick ein herausragender Jugendroman gerade auch für Erwachsene gelungen. Wo sich Berliner Autoren seiner Generation meist an anekdotischen Romanen über das Leben in Berlin-Mitte abmühen, holt Herrndorf weit aus. Er zielt auf das Pathos, das im Scheitern begründet liegt. Das ist nichts weniger als ein Ereignis. (Christian Schachinger/ DER STANDARD, Printausgabe, 23.12.2010)