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Anschluss verpasst: Türkischer Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu.

Foto: Reuters/Bektas

Die „neue CHP" wird am schwarz furnierten Pressspantisch erfunden, ein mannslanges Möbel, das sie alle hier im Büro im elften Stock stehen haben. Der elfte Stock gehört den Vizeparteichefs, 13 an der Zahl. Isa Gök ist einer von ihnen. Die neue CHP wird humanistischer, sozialdemokratischer, viel freundlicher gegenüber der EU sein, sagt er. Vor ihm auf dem schwarzen Tisch liegt eine Handbreit Schnellhefter mit Papieren und sonst nichts. Die Sekretärin kommt und erklärt ihm, wie das Telefon funktioniert. Am Samstag ist Parteitag.

Da wartet dann die alte CHP auf Gök und den Parteivorsitzenden Kemal Kiliçdaroglu, eine Seilschaft von Parlamentsabgeordneten und Provinzfürsten, die sich nicht einfach ihre Pfründe nehmen lassen wollen. „Unsere Vertreter müssen die Bedeutung des Worts „wir" lernen und nicht immer „ich" sagen", erklärt Gök, der Mann der neuen Führung, selbst Parlamentsabgeordneter aus Mersin an der Mittelmeerküste der Türkei, wo die Republikanische Volkspartei CHP ihre letzten Hochburgen hat. Atatürks Erben haben den Anschluss verpasst. Gök weiß das und erst recht Kiliçdaroglu, der seit Mai die älteste Partei des Landes führt und nach nicht einmal einem halben Jahr im Amt um die Mehrheit im Apparat der CHP kämpfen muss.

„Wir haben das Reich der Furcht in unserer Partei zerstört, unser nächstes Ziel ist es, das Reich der Furcht in unserem Land zu zerstören", hatte Kiliçdaroglu vollmundig erklärt, als er im November seinen mächtigen Generalsekretär Önder Sav feuerte, knapp ein halbes Jahr vor den Parlamentswahlen. Umfragen sehen die säkulare CHP bei 20 Prozent, die regierende konservativ-muslimische AKP aber mitunter bei 46 Prozent. Eine dritte Amtszeit von Premierminister Tayyip Erdogan, so die einhellige Meinung politischer Beobachter im Land, wird die Republikanische Volkspartei kaum abwenden können. Die AKP gilt als ungleich arbeitsamer und besser organisiert. Bei der CHP spüre man immer ein wenig die Nähe zum Mausoleum von Atatürk, heißt es mit Blick auf die leeren Gänge im Parteigebäude.

Noch kurz vor Beginn des Parteitags in der neuen Arena-Sporthalle in Ankara stritt die CHP über den Modus zur Wahl des Führungsgremiums, die zentrale Machtfrage. Kiliçdaroglu, der innerparteiliche Demokratie versprach, als er im Mai das Amt des Vorsitzenden übernahm - ein Novum für türkische Parteien -, will plötzlich seine Kandidaten für den Parteirat mit einer unveränderbaren Blockliste durchboxen. Seine Kontrahenten dagegen - der abgesetzte Generalsekretär Sav und der frühere Parteichef Deniz Baykal - bestanden auf einer „offenen" Liste, wo Namen hinzugefügt und gestrichen werden können. „Çarșaf" heißt das im Parteijargon - „Bettlaken" -, nicht nur weil die Kandidatenliste endlos streckbar scheint, sondern wohl auch, weil sie die Manöver der alten Parteibarone verhüllt.

Doch Kemal Kiliçdaroglu, der langjährige Finanzbeamte, der seiner angeblichen Sanftheit wegen „Kemal Gandhi" getauft worden war, hat seit der Palastrevolte im November Oberwasser gewonnen. Jetzt steuert alles auf die Einheitsliste zu, auf der auch Gefolgsmänner von Sav und Baykal stehen. „Kiliçdaroglu ist ein Muss für die Partei. Es wäre wirklich idiotisch, sechs Monate vor den Parlamentswahlen den Parteivorsitzenden zu demontieren", sagt Gülsün Bilgehan Toker, „seine Gegner haben das verstanden". Toker, die Enkeltochter des früheren türkischen Präsidenten Ismet Inönü, war bis vor kurzem auch stellvertretende Parteichefin und Aushängeschilds des Neubeginns der Partei unter Kiliçdaroglu. In den chaotischen Novembertagen verlor sie ihr Amt. „Es war ein Missverständnis", sagt sie. Sie saß im falschen Saal, als Kiliçdaroglu und Sav auf verschiedenen Etagen im Parteigebäude ihre Truppen versammelt hatten und sich gegenseitig aus dem Amt zu kippen versuchten.

Der Streit zwischen den Männern ist persönlich, eine Frage von Loyalität und Intrige, doch es geht auch um die politische Neuausrichtung der Partei: mehr Flexibilität in der Kopftuchfrage, mehr Offenheit gegenüber den Autonomiewünschen der Kurden, weniger Treue gegenüber der Armee, die durch die Ermittlungen zu den Verschwörungsplänen des Geheimbunds Ergenekon kompromittiert ist. Noch wegen jeden Reformvorhabens der Erdogan-Regierung zog die CHP in den vergangenen Jahren vor das Verfassungsgericht. Der Makel des Neinsagers ohne Gegenvorschläge hängt ihr auch in Europa an. „Wir haben zu wenig mit der EU gesprochen", räumt Isa Gök ein. In Europa werde Erdogans AKP durch eine rosarote Brille gesehen, sagt er, „dabei arbeiten sie auf einen islamischen Regimewechsel in der Türkei hin". (Markus Bernath aus Ankara/DER STANDARD, 18.12.2010)