Je tiefer Griechenland, Irland und demnächst Portugal von der Schuldenkrise erfasst wer- den, desto besser geht es der deutschen Wirtschaft:

Finanzinvestoren flüchten aus Anleihen der "Problemländer" in deutsche Staatsanleihen. Dies treibt das Zinsniveau in diesen Ländern nach oben und in Deutschland nach unten.

Die Schuldenkrise schwächt den Wechselkurs des Euro, und davon profitiert der "Exportweltmeister" am stärksten.

Die steigende Zinsenlast verschärft den Sparzwang für die Regierungen der "Problemländer", und dies dämpft deren Wachstum zusätzlich.

In kurzsichtiger Betrachtung hat es den Anschein, als würde Deutschland endlich für seine Disziplin belohnt. Doch der Schein trügt: Die weitere Ausbreitung des "Zinsvirus" wird auch der deutschen Wirtschaft schweren Schaden zufügen - spätestens wenn Italien von der Epidemie erfasst wird.

Dafür sind zwei Effekte bestimmend:

Die deutschen Exporte werden umso stärker gedämpft, je größer die betroffenen Volkswirtschaften sind. Und: Je größer das Volumen der Rettungspakete, desto stärker wird der Zweifel an der Finanzierungskapazität Deutschlands.

Vermeintliche Profiteure ...

Ein Zerfall der Währungsunion würde Deutschland (und Europa) noch viel stärker beschädigen, und zwar nicht nur durch die drastische Aufwertung der neuen (alten?) Währung, sondern insbesondere durch die Wiederbelebung der nationalen Ressentiments in Europa. Die wechselseitigen Schuldzuweisungen aus jüngster Zeit könnten sich als Prolog zu diesem Prozess erweisen.

Auch deshalb sind Symptomkuren wie eine Ausweitung des Rettungsschirms oder zusätzliche Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB keine Lösung: Alles, was als zusätzliche Belastung der deutschen Steuerzahler zugunsten der "disziplinlosen" Euroländer (vornehmlich im Süden) dargestellt werden kann, scheitert am innenpolitischen Widerstand in Deutschland.

Ähnliches gilt für die Ausgabe von Eurobonds. Dadurch würden ja die Zinsen für Deutschland steigen und für die "Problemländer" sinken - der "Gute" wird bestraft, die "Schlechten" werden belohnt.

Andererseits: Die Zinsepidemie wird sich weiter ausbreiten, denn sie entspricht der Logik, nach der sich das Gewinnstreben auf Finanzmärkten entfaltet. Die Geschäfte auf dem Markt für "credit default swaps" (CDS) und Staatsanleihen von "Problemländern" sind beispielhaft:

Etappe eins: Solange ein Land noch nicht "im Gerede" ist, macht ein Investor wie Goldman Sachs, die Deutsche Bank oder ein Hedgefonds, ein CDS-Geschäft mit etwas weniger "smarten" Finanzverwaltern (Pensionsfonds, deutsche Landesbanken etc.). Der Investor versichert, dass ein Euroland doch niemals pleitegehen könne, und kauft die CDS-Polizze gegen Zahlung der Prämie.

Etappe zwei: Nun kommt das Land ins Gerede, und die Angst vor einer Staatspleite wird nach Kräften geschürt. Die CDS-Prämien steigen und damit auch die Zinsen, verstärkt durch eine Flucht aus den Staatsanleihen dieses Landes. Damit steigt der Wert der alten CDS mit viel niedrigerer Prämienlast. Wenn der Zins auf ein Spitzenniveau gestiegen ist, verkauft der Investor den CDS mit Gewinn.

Etappe drei: Nun kauft der Investor selbst die hochverzinslich gewordenen Staatspapiere mit billigem Zentralbankgeld. Gleichzeitig wird die Argumentation von Etappe eins ins Spiel gebracht: Niemals dürfe die Europäische Union eines ihrer Mitgliedsländer im Stich lassen! Schließlich wird das Land gerettet und das Geschäft so abgesichert.

Hauptproblem für die Finanzinvestoren: Je Land können die drei Etappen nur einmal absolviert werden. Also müssen neue drankommen, wobei jedes Mal andere (durchaus relevante) Gründe zur "Unterfütterung" der Pleiteangst von Etappe zwei herangezogen werden.

Alle lukrativen Finanzaktivitäten folgen dieser Logik: Spekulation verstärkt das "trending" von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Aktienkursen, Zinssätzen oder auch CDS-Prämien und zielt gleichzeitig darauf ab, die daraus resultierenden Preisdifferenzen profitabel zu nützen, und zwar auf Kosten der weniger "smarten" Akteure.

Nach einer "Anstandspause" werden sich daher die Finanzinvestoren Portugal und danach Spanien zuwenden, sie folgen dabei nur ihrem Gewinnstreben.

Das Hauptproblem besteht in der finanzkapitalistischen "Spielanlage" und damit im systemischen Charakter der Krise: Das Profitstreben kann in der Realwirtschaft eine enorme Dynamik entfalten, wenn gleichzeitig die finanziellen Rahmenbedingungen - insbesondere Zinssatz und Wechselkurs - stabil gehalten werden (wie bei uns in den 1950er- und 1960er-Jahren, oder in China seit etwa 1980). Wenn sich das Profitstreben durch Änderung der "Spielanlage" immer mehr auf die Finanzwirtschaft verlagert, so verschlechtern sich die Bedingungen für unternehmerische Aktivitäten: Finanzspekulation destabilisiert Wechselkurse, Zinssätze, Aktienkurse und Rohstoffpreise, und das Wirtschaftswachstum sinkt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt (wie bei uns seit Anfang der 1970er-Jahre).

Eine systemische Krise braucht eine systemische Therapie: Die Anreizbedingungen sind so zu verändern, dass sich unternehmerisches Handeln (wieder) mehr lohnt als Finanzkunststücke. Grundvoraussetzung: Das System Politik muss die zwischen der Real- und Finanzwirtschaft vermittelnden Preise (im Raum: Wechselkurs, in der Zeit: Zinssatz) stabilisieren, und zwar entsprechend den Gleichgewichtswerten der (neoliberalen!) Wirtschaftstheorie (Zinssatz=Wachstumsrate, Wechselkurs=Kaufkraftparität). Ein konkreter Lösungsansatz für die akute Eurokrise sähe so aus:

... zu tatsächlichen machen

  • Der Rettungsfonds (dotiert mit 750 Milliarden Euro) wird zum "Europäischen Währungsfonds" (EWF) ausgebaut, gespeist aus Mitteln der Euro-Zentralbanken.
  • EZB und EWF geben eine Garantie für die Staatsschuld sämtlicher Euroländer ab. - Damit gibt es keinen Grund für Risikoprämien.
  • EZB und EWF legen gemeinsam die Zinshöhe für neu emittierte Eurostaatsanleihen fest, und zwar annähernd auf dem Niveau der (nominellen) Wachstumsrate (derzeit etwa drei Prozent).
  • Auf diese Weise wird der langfristige Zins nach einem gleichen Verfahren festgelegt wie der (kurzfristige) EZB-Leitzins ("Mengentender").
  • Jene Neuemissionen, welche zu diesen Konditionen keine privaten Abnehmer finden, werden vom EWF übernommen.
  • Die Eurobonds werden freilich genügend Anleger finden. Es existiert ja ein enormes Volumen an Finanzkapital, das einen relativ sicheren Hafen sucht.
  • Die Vergabe der Erlöse aus den EWF-Eurobonds an die einzelnen Mitgliedsländer wird klaren Richtlinien unterworfen (analog zu IWF-Krediten, aber den europäischen Rahmenbedingungen angepasst).

Der Teufelskreis von Wucherzinszahlungen an Finanzinvestoren, verstärkten Sparbemühungen, Dämpfung des Wirtschaftswachstums, steigender Verschuldung und noch höheren Zinsen, wäre damit ausgeschaltet.

Davon profitiert gerade die deutsche Wirtschaft. Ihre Stärke besteht ja nicht in Finanzakrobatik (wenn wir von der Deutschen Bank mal absehen), sondern in realwirtschaftlicher Effizienz. (Stephan Schulmeister, DER STANDARD, Printausgabe, 17.12.2010)