Und plötzlich erscheint dann Chongqing am Horizont. Lichtgirlanden in allen Farben funkeln an der riesigen Brücke, die sich über den breitbrüstigen, schlammbraunen Jangtse spannt, intensives rotes, gelbes, blaues Leuchten vor einem Hintergrund in gedeckten Farben. Die abendliche Einfahrt nach Chongqing ist ein Schauspiel, für das man gerne einmal das Wort "majestätisch" aus seinem Vokabelschatz hervorkramt.

Vom Schiff aus betrachtet, aus der abgesenkten Perspektive des Flussbetts, wirken die links und rechts wie Pilze in einen dunstig-grauen Himmel wachsenden Hochhäuser noch viel höher und imposanter, als sie es ohnehin sind. Es ist heiß, die Luft ist feucht - seinen Spitznamen als "Backofen Chinas" trägt Chongqing nicht von ungefähr.

Was hat man als durchschnittlicher Österreicher zuvor von Chongqing gehört? Wohl meist nicht viel. Dabei wäre die durch eine Verwaltungszusammenlegung entstandene chinesische Riesenagglomoration, wenn man sie denn als Stadt betrachten will, die größte Stadt der Welt: 33 Millionen Einwohner, auf einer Fläche annähernd so groß wie Österreich. Die Intensität, mit der hier auf Teufel komm raus gebaut, geshoppt und auf Autobahnen, die das bergige Terrain engmaschig durchziehen, gebrettert wird, ist immens und liefert einen überzeugenden sinnlichen Eindruck davon, wie laut die welthistorische Musi in China derzeit spielt. Weil die Lohnkosten im Inneren Chinas viel geringer sind als an der Ostküste, kommen die nationalen und internationalen Firmen mit dem Ansiedeln kaum mehr nach: Fast glaubt man, dem In-die-Höhe-Wachsen der Stadt wie im Zeitraffer zusehen zu können.

Diabolisch scharf

Irgendwo in den endlosen Wolkenkratzermassen verbirgt sich eine quirlige, bunte Altstadt: Chinesische Familien, die am Straßenrand ihre diabolisch scharfen "Feuertöpfe" (Huo Guo) leerschlürfen, Dim-Sum-Buden, Marktstände mit allerlei lebendem Getier und einem Nahrungsmittelangebot, das die westlichen Geschmackgewohnheiten gelegentlich auf eine harte Probe stellt. Die von Hochhäusern umzingelte Szenerie ist farbenprächtig und lebendig, und dennoch wirkt sie auch wie ein Relikt aus einer Zeit, die unwiderruflich zu Ende gegangen ist.

Rückblende, fünf Tage zuvor und etliche hundert Kilometer weiter östlich: Wir gehen in der Stadt Jichang (bescheidene vier Millionen Einwohner) an Bord der Victoria Jenna, eines Kreuzfahrtschiffs, betrieben von der chinesisch-amerikanischen Gesellschaft Victoria Cruises, die den Jangtse mit momentan acht luxuriösen Passagierschiffen befährt. Indien hat seinen Ganges, Frankreich die Seine, Österreich die Donau und China den Jangtse: Der größte chinesische Fluss ist 6380 Kilometer lang (Platz drei hinter dem Nil und dem Amazonas) und notorisch launenhaft: Immer wieder trat und tritt er über die Ufer, häufig mit katastrophalen Folgen. 1998 riss ein Hochwasser mehr als 4000 Menschen in den Tod; 1954 waren es sogar über 30.000. Kein Wunder, dass die Chinesen ständig versucht haben, den Jangtse zu bändigen und zu zähmen. Der berühmt-berüchtigte Drei-Schluchten-Staudamm, eines der umstrittensten Bauvorhaben seiner Art, diente nicht zuletzt dem Zweck, den Flussgiganten in seine Schranken zu weisen.

Gleich am zweiten Reisetag, etwa vierzig Kilometer flussaufwärts von Yichiang, stoßen wir auf den gigantischen Betonriegel, der sich quer durch die dunstige Flusslandschaft zieht: sagenhafte zwanzig Kilometer lang, 185 Meter hoch und an seinem Fuss 130 Meter breit. Hauptbetreiber dieses megalomanen Unternehmens war der Energieminister und Ministerpräsident Li Peng, ein ehrgeiziger Technokrat, der den Damm gegen alle Widerstände durchboxte. Und Widerstände gab es genug. Als das Projekt 1992 im chinesischen Volkskongress verabschiedet wurde, stemmte sich - ein bis dato noch niemals gesehenes Schauspiel der Insubordination - ein Drittel der Abgeordneten gegen den Plan. Viele waren überzeugt, dass die ökologischen und sonstigen Folgen eines solchen Bauvorhabens schlicht und einfach nicht kalkulierbar seien.

Offene Bilanz

Tatsächlich ist die abschließende Bilanz über den Drei-Schluchten-Staudamm zwei Jahre nach seiner Fertigstellung im Jahr 2008 noch lange nicht gezogen. In diesem Sommer freuten sich die chinesische Regierung und die Medien darüber, dass der Damm nach schweren Unwettern seinen ersten großen Belastungstest absolviert und den Wassermassen standgehalten habe. Andererseits hört man von Umweltschäden, einer Veränderung des Mikroklimas, der ständigen Erosion der Ufer, die das Staubecken mit Erde und Geröll anfüllt.

Auch unser chinesischer Reiseführer räumt Schattenseiten ein: Unter den Zwangsabsiedelungen und der Flutung von Dörfern und Städten, die dem Bau vorangingen, hätten vor allem viele Alte gelitten. Die Jungen aber, die in in viel größere Wohnungen umgesiedelt worden seien, seien glücklich darüber, dass sie sich so gewaltig verbessert hätten: Die Entflechtung von Dichtung und Wahrheit ist bei solchen Geschichten erfahrungsgemäß nicht leicht.

Wir durchqueren den Staudamm durch ein spektakuläres Schleusensystem, danach kommt die Victoria Jenna in ruhigere Fahrwasser. Auf den Kabinendecks stellt sich ein wohliges Das-Leben-ist-ein-langer-ruhiger-Fluss-Gefühl ein, wenn man den Blick über die träge dahinfließenden Fluten und die theatralisch-kulissenhaften Berglandschaften hinwegschweifen lässt. Hier durchqueren wir nun die berühmten "drei großen Schluchten", die mit ihren wechselnden Naturschauspielen die Fantasie der chinesischen Poeten und Maler immer wieder herausgefordert haben. Die Xiling-Schlucht mit ihren gefährlichen Klippen, die bukolischere Wu-Schlucht oder "Zauberschlucht", deren Ufer malerisch von dichtbewaldeten Bergen gesäumt werden, und schließlich die sich stellenweise auf nur hundert Meter verengende Qutang-Schlucht: Sie ist zwar lediglich acht Kilometer lang, lässt es aber an landschaftlicher Dramatik wahrlich nicht fehlen.

Viel lieblicher und ein veritables Highlight der Kreuzfahrt ist die Expedition in einen schluchtengesäumten Nebenarm des Jangtse, der sich zunehmend verjüngt und in zivilisationsfernere, unverbaute Gebiete vordringt. Durch die ebenfalls berühmten "kleinen Schluchten", die man auch nur mit kleineren Booten befahren kann, mäandert der Fluss mit unberechenbaren Wendungen und gibt den Blick auf immer neue Naturschauspiele frei; seine Farbe hat er inzwischen in ein fast unwirklich anmutendes Jadegrün gewechselt. Links und rechts wachsen gigantische Felshänge empor, auf denen dann und wann ein in Stein gehauener Pfad von früheren Zivilisationen kündet.

Zurück auf der Victoria Jenna, setzen wir die Reise fort, mit der faszinierend-schrägen Geisterstadt Fengdu als nächster Etappe. Auf einem per Schwebebahn erreichbaren Hügel hat sich der chinesische Volksglaube ein bizarres Denkmal gesetzt: In einer unübersichlichen Tempelstadt tummeln sich regelrechte Horden von bizarren Dämonenfiguren, die den barocksten westlichen Höllenvisionen in nichts nachstehen. Besucher, die um ihr jenseitiges Heil besorgt sind, können sich Pluspunkte verschaffen, indem sie einige Fleißaufgaben für die Transzendenz erledigen: bleischwere Kugeln heben oder auf einem Bein auf einer abschüssigen Ebene stehen. Es gibt kaum jemanden, der bei der Rückkehr auf unser Kreuzfahrtsschiff nicht von den sonderbaren Erscheinungsformen der chinesischen Transzendenz beeindruckt wäre. Willkommen an Bord, Chongqing wartet auf uns. (Christoph Winder/DER STANDARD/Rondo/17.12.2010)