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Die Europäische Union ist für die Briten kein emotionales Projekt, sondern vielmehr eine Kosten-Nutzen-Rechnung, erklärt Rory Stewart

Foto: AP/Scott Heppell

 Für Rory Stewart, einen aufstrebenden Abgeordneten der britischen Konservativen, ist ein Austritt Großbritanniens aus der EU eine realistische Befürchtung, sagte er zu Christoph Prantner.

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STANDARD: Sie gelten als einer der wenigen europafreundlichen Tory-Parlamentarier. Hat man Sie in Westminster schon auf die Liste der gefährdeten Arten gesetzt? 

Stewart: So schlimm ist es auch wieder nicht. Ein Gutteil der Europadebatte in Großbritannien ist eine Diskussion über eine Freihandelszone. Denn so wurde die Gemeinschaft den Bürgern in den 1970ern verkauft. Bei uns gibt es keine große, idealistische Liebe für die EU. Unlängst habe ich an einem Tag eine Rede an der Ost- und eine an der Westküste Englands gehalten. In beiden Fällen war das Publikum zu 90 Prozent gegen die Union. Das zeigt ein reales Problem, nämlich jenes der praktischen Legitimität der EU. Es ist fein, wenn Eliten das Projekt gut finden. Aber wenn 90 Prozent der Bevölkerung dagegen sind, dann muss man darüber reden. 

STANDARD: Also misstrauen die Briten den Institutionen in Brüssel? 

Stewart: Mehr als das. Wenn man eine Idee sehr liebt, dann neigt man dazu, deren Schwächen gnädig zu verzeihen. Und wenn jemand etwas sehr hasst, dann werden die kleinsten Probleme zu großen Irritationen. Das ist die eine Sache. Die zweite ist: Großbritannien stellt eine Kosten-Nutzen-Rechnung an. Die Briten wollen wissen, was ihr Benefit aus der EU ist. In Kontinentaleuropa ist es mehr als das. Dort ist die Union für viele Mitgliedsstaaten ein Traum. Der Euro war für sie nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale und historische Entscheidung. 

STANDARD: Damit haben sich viele offenbar verschätzt.

Stewart: In der Eurokrise wird die Herausforderung einer solchen Haltung jedenfalls klarer. Viele in Großbritannien sagen dazu: Na klar, da wurden einige zu sehr von ihren Emotionen geleitet. Sie wollten glauben, dass es eine gute Idee war. Aber am Ende ist die portugiesische Wirtschaft strukturell einfach zu verschieden von jener Deutschlands.

STANDARD: Mehr als die Hälfte der neuen Tory-Abgeordneten in Westminster wollen umgehend aus der EU austreten. Wird London einen ernsthaften Versuch in diese Richtung unternehmen?

Stewart: Der Grund, warum diese Abgeordneten für einen Austritt sind, liegt zu einem guten Teil darin, dass sie viel mehr Bürgerarbeit in ihren Wahlkreisen geleistet haben als ihre Vorgänger. Weil der Wahlausgang so knapp vorhergesagt war, mussten sie sich wirklich auf die Bürger einlassen. Das ist einer der Hauptgründe für die EU-Skepsis im britischen Parlament. Natürlich gibt es immer eine Kluft zwischen dem, was die Bürger wollen, und dem, was das Parlament beschließt. Aber wenn diese Kluft seit 35 Jahren immer weiter auseinandergeht, dann bleibt letzten Endes wohl nichts anderes, als diese Befürchtung als sehr realistisch anzusehen.

STANDARD: Wofür würden Sie in Ihrem Wahlkreis plädieren?

Stewart: Ich würde für einen Verbleib Großbritanniens in der EU argumentieren. Ich glaube, der Nutzen überwiegt die Kosten. London kann sich in Brüssel sehr pragmatisch einbringen. Die EU von heute ist näher an der britischen Vorstellung als jene von Jean Monnet in den 1950er-Jahren. Außerdem haben wir einige gute Alliierte in Osteuropa, die uns helfen können, die EU neu zu definieren. In meinem Wahlkreis erwähne ich dann übrigens noch, dass wir sechs Milliarden Pfund für die EU und sieben Milliarden für Afghanistan ausgeben.

STANDARD: Überzeugt das in Ihrem Wahlkreis?

Stewart: Ich habe den Eindruck, dass wir irgendwann ein Referendum brauchen werden, um den Bürgen die Gelegenheit zu geben, darüber zu diskutieren. Der Vertrag von Lissabon wäre eine gute Möglichkeit dafür gewesen.  (DER STANDARD, Printausgabe, 16.12.2010)