Handout im Kurs.

Foto: derstandard.at/burg

Die Poster an der Wand könnten auch in einer Volksschule hängen.

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Karl sinniert über Sinn und Unsinn des Lesens.

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Auch Mathe wird gepaukt.

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"Es ist keine Lehre, wenn der Computer das Getippte anzeigt und das geschriebene Wort verbessert", hat Karl in den Laptop getippt. Er ist einer von acht Teilnehmern des Basisbildungskurses an der Volkshochschule Floridsdorf. Lesen, Schreiben, Rechnen und der Umgang mit dem Computer sollen hier vermittelt werden. Täglich von 9 bis 12 Uhr an drei Tagen pro Woche lernen hier Menschen mit Deutsch als Muttersprache oder MigrantInnen mit guten Deutschkenntnissen, was sie eigentlich schon in der Schule lernen hätte sollen. Oder was sie seither wieder vergessen haben.

An den Wänden hängen Lernposter, die auch in einer Volksschule hängen könnten. "Die Wörter, die mit a aufhören, musst du dir merken: Oma, Opa, lila, Lama", ist da beispielsweise zu lesen. Wie viele Menschen hierzulande nicht oder nicht ausreichend Lesen und Schreiben können, weiß niemand so genau. Sowohl das europäische Parlament als auch die OECD schätzen die Zahlen der funktionalen AnalphabetInnen in den EU-Ländern auf 10 Prozent bis 20 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahren. Das würde bedeuten, dass in Österreich zwischen 670.000 und 1,34 Millionen Menschen betroffen sind.

Arbeitslosigkeit

Karl ist 40 und arbeitslos. Bisher hat er in vielen Bereichen gearbeitet, als Maurer oder Gärtner. Aber mittlerweile komme er ohne Lese-und Schreibkenntnisse nicht mal mehr in sozialen Projekten unter. Seine halblangen Haare werden mit einem breiten Haarreifen zurück gehalten. Der Vollbart ist leicht ergraut. „Letztens hat mich ein kleiner Bub gefragt, ob ich der Weihnachtsmann bin", scherzt er. Schmunzeln in der Gruppe.

Lesen und schreiben – Wozu?

Bis vor kurzem hätte Karl den Satz, den er getippt hat, weder lesen noch schreiben können. Über seinen Lernerfolg zeigt er sich aber nicht sonderlich begeistert: "Wozu ich das Lesen und Schreiben brauchen soll, weiß ich allerdings nicht". Er habe keine Vorstellung, was er damit anfangen soll. Er sei schon immer sehr freiheitsliebend gewesen und das Lesen zu lernen, sei ihm nie wichtig gewesen. Schon sein Großvater konnte nicht lesen. Er sei bisher auch so gut zurecht gekommen. „Ich bin immer offen damit umgegangen. Auf den Ämtern habe ich die Behörden gebeten, mir beim Ausfüllen der Formulare zu helfen". Und wenn er sich etwas notieren will? „Dann zeichne ich mir das auf", antwortet Karl.

Karl ist freiwillig hier, wie er erzählt. Aus einem TV-Spot im deutschen Fernsehen hat er überhaupt erst erfahren, dass es Kurse gibt, in denen Erwachsene Volksschulstoff lernen können. Die Kursgebühren von 1.400 Euro übernimmt das AMS für ihn. „Das könnten sich Schwächere sonst ja nicht leisten", sagt Karl. Bis 15 sei er in der Schule gewesen. Viele Jahre habe er im Heim verbracht. Mit diversen Tricks und Lehrern, die beide Augen zugedrückt haben, hat er die Pflichtschuljahre hinter sich gebracht. Auch seine Legasthenie könnte dazu beigetragen haben, dass er das Lesen und Schreiben bisher nicht gelernt hat.

Teilnehmer zwischen 25 und 50

Jährlich sind es etwa 130 TeilnehmerInnen zwischen 25 und 50 Jahren, die sich an der Volkshochschule Floridsdorf die Basiskenntnisse in Lesen und Schreiben aneignen. Die Lernziele der TeilnehmerInnen in diesem Basiskurs sind sehr unterschiedlich. Bianca hat etwa bereits eine abgeschlossene Lehre als Bürokauffrau. Bei einem Eignungstest für einen Lohnverrechnungskurs hat sie bemerkt, dass sie erheblichen Nachholbedarf in Mathematik hat. „Ich war es gewohnt, immer mit dem Taschenrechner zu rechnen". Beim Test war dann aber der Taschenrechner tabu. Im Kurs lernt sie nun die Grundrechnungsarten, Bruchrechnungen und Gleichungen. "Ich bin total motiviert und will viel lernen. Vielleicht schaffe ich sogar die Matura und kann später studieren gehen". Sie sei erst 23 und hätte noch viel Zeit.

Individual- statt Frontalunterricht

Für jeden individuell zugeschnittene Lernbegleitung statt Frontalunterricht, lautet das Motto im Kurs. Oft haben Menschen in der Schule entmutigende und demütigende Erfahrungen gemacht. Genau das wieder zu erleben, soll den Teilnehmern dieses Kurses erspart bleiben. Während Bianca ihre Gleichungen macht, ist Sue damit beschäftigt einen handschriftlichen Aufsatz zu verfassen. Julia Rührlinger und Maria Burkert trainieren die Gruppe. „Wenn die Lesekompetenz in der zweiten Volksschulklasse nicht ausreichend gefestigt ist, dann hat das massive Auswirkungen auf den weiteren Weg". Rührlinger kritisiert, dass die Grundkompetenzen in den Schulen oft nicht ausreichend gefestigt werden, weil Bildung an sich als Wert nicht ausreichend gewürdigt wird.

In den allermeisten Fällen seien die tristen sozialen Verhältnisse dafür ausschlaggebend, dass Menschen unser Schulsystem verlassen, ohne ausreichend Schreiben und Lesen zu können, erklärt Astrid Klopf-Kellerer, Leiterin des Bereiches Basisbildung an der Volkshochschule Floridsdorf. „In diesen Familien geht es schlichtweg oft darum, zu überleben". Schüler mit Lernschwierigkeiten werden in die „Sonderschule" abgeschoben – oft meinen es die Lehrer gut, drücken beide Augen zu. Dass bereits in der Volksschule auf den erhöhten Förderungsbedarf der Schwächeren eingegangen wird, und zwar auch auf sozialarbeiterischer Ebene, fordert Klopf-Kellerer.

"Ich bin so überglücklich"

"Ich bin so überglücklich", ruft Sue und bricht in Tränen aus. Sie hat gerade einen Aufsatz geschrieben, Trainerin Maria Burkert hat sie gelobt. Sie sei jetzt 44 und habe noch nie so viel gelernt wie jetzt. Vor 20 Jahren ist sie aus Nigeria nach Österreich gekommen. Ihr Vater ist gestorben als sie fünf, die Mutter als sie neun Jahre alt war. Man habe ihr zwar immer versprochen, dass sie zur Schule gehen darf. Letztendlich wurde ihr Traum nie erfüllt. Heute sitzt sie also in der Volkshochschule in Floridsdorf. Eifrig blättert sie im Wörterbuch. Bei besonders schwierigen Wörtern ruft sie eine Trainerin zur Hilfe. Schließlich hat sie ein Teil ihrer Lebensgeschichte zu Papier gebracht. "Ich will als Altenpflegerin arbeiten. Im Sommer mit den Menschen spazieren gehen und Freude in ihr Leben bringen. Ich habe so viel Kraft", sagt Sue. Doch ohne die passenden Zeugnisse sei das nicht möglich.

Ein Zeugnis zu erwerben, nämlich den Hauptschulabschluss, ist auch Martinas Ziel. In den Basiskurs ist die 30-Jährige gekommen um ihre Schreib- und Rechenkenntnisse zu verbessern. "In der Hauptschulzeit hatte ich andere Interessen als zu lernen", erklärt sie. Später will sie einmal Kindergartenhelferin werden.

Der Text auf Karls Laptop ist mittlerweile fast eine Seite lang. "Schreiben Sie in der Zeitung, dass es in Österreich Schreibstuben geben sollte, wo man Briefe schreiben lassen kann", ruft er. Er beharrt darauf, dass das Schreiben und Lesen für ihn keinen Sinn macht. Andererseits: "Ich hätte schon gerne einen eigenen Laptop, mit einem Lernprogramm für Legastheniker. Aber sowas kann ich mir nicht leisten". (Katrin Burgstaller, 16. Dezember 2010)