Nach den letzten Anträgen der Staatsanwaltschaft und letzten Plädoyers der Verteidigung im November nun also das Finale: Mit der Urteilsverlesung nähert sich der Prozess gegen den "Kriminellen" Michail Chodorkowski und seinen "Komplizen" Platon Lebedew seinem - vorhersehbaren - Ende.

Die Russen sind keine Dummköpfe, Sie wissen ganz genau, dass der Richterspruch im in den "Korridoren der Macht" gefällt wird, 40 Prozent von ihnen sind jedenfalls, wie eine Meinungsumfrage vor kurzem ergab, davon überzeugt,

Der Ex-Chef des Ölriesen Yukos war surrealistischerweise angeklagt, unter aller Augen, ohne dass jemand auch nur irgendetwas mitbekommen hätte, ein Fünftel der russischen Ölproduktion zwischen 1998 und 2003 gestohlen zu haben. In Tankern gemessen, wäre das eine Schiffskette, die zwei Mal um den Äquator reicht. Chodorkowski ist schuldig, ganz entschieden schuldig. Der Staatsanwalt, die gute ehrliche Haut, hat das Ausmaß des kleinen Diebstahls nach unten korrigiert: So hat er ohne weitere Erklärung aus 349 Millionen geraubter Tonnen Petroleum 218 Millionen gemacht. Meinte er ernsthaft, diese Zahlen seien glaubwürdiger?

Dann sind Männer wie Kassjanow (zum Zeitpunkt des Geschehens Premierminister), Christenko (seinerzeit Vizepremier) oder Gref (Entwicklungsminister) in den Zeugenstand gerufen worden. Sie alle haben ausgesagt, dass eine Unterschlagung von solchen Ausmaßen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Auf keinen Fall hätte sie ihnen entgehen können. Armer Staatsanwalt! Hilflos jonglieret er mit seinen imaginären Barrels. "Ich danke dem Staatsanwalt, der den Beweis meiner Unschuld erbracht hat", sagte der Angeklagte ironisch, "kein normal denkender Mensch kann etwas derart Absurdes für möglich halten."

Jeder muss sich angesichts dieses Prozesverlaufs fragen, warum der entehrte und ausgeplünderte Ex-Oligarch, der ungerechtfertigterweise bereits sieben Jahre in einem sibirischen Straflager verbracht hat, nicht freigelassen wird. Warum er nicht ins Exil ausreisen darf. Ein solches Vorgehen hätte Vorteile: Es würde potenziellen ausländischen Investoren etwas Sicherheit geben - Investoren, die jetzt verständlicherweise davor zurückschrecken, Menschen und Kapital in einem Land zu riskieren, das von allgegenwärtiger Korruption und von kleptokratischen Eliten zersetzt wird.

Gegen eine Freilassung sprach jedoch immer schon die wahre Schuld des Michail Chodorkowski, die so schwer auf ihm lastet: Er ist gegenüber Wladimir Putin im Recht. Russland gehört zu den korruptesten Ländern der Welt, in einer Liga mit Tadschikistan und Papua-Neuguinea, irgendwo zwischen dem Jemen und der Demokratischen Republik Kongo. Wer also wird dort sein Kapital investieren?

Die Gemengelage von undurchsichtigen politischen Skandalen und mysteriösen Attentaten lädt nicht dazu ein, dort Geschäfte zu machen. Eine derart weitverbreitete Korruption ist eine "Bedrohung, die schlimmer ist als die nukleare", bekräftigt Chodorkowski. Er war es, der vor zehn Jahren die Vision eines Russlands entwarf, das sich modernisiert und demokratisiert, indem es sich von seinen politisch-ökonomischen Mafia-Strukturen emanzipiert.

Noch vor kurzem mochten die Vorstellungen Chodorkowskis in den Augen Moskaus verfrüht und verwegen, wenn nicht gar utopisch erscheinen. Heute hat der Wind gedreht, und man entdeckt langsam, was das wahre Risiko für das Land ist, nämlich Putin und seine triste Bilanz. Allen voran das ökonomische Fiasko: Die enormen Renditen aus dem Öl- und Gasgeschäft haben vor der Krise nur die mächtigsten Kurtisanen der Stunde reich gemacht. ohne dass die industrillen und landwirtschaftlichen Betriebe von diesem Manna etwas abbekommen und damit die Chance erhalten hätten, sich zu modernisieren. Die Weltwirtschaftskrise hat dann mit voller Wucht eine schrumpfende Gesellschaft getroffen, die auf die Gewinnung fossiler Energieträger angewiesen und sich folglich im freien Fall befindet. Selbst Medwedjew hat öffentlich beklagt, an der Spitze eines gelähmten "Ölemirats" zu stehen.

Dann das strategische Fiasko: Der verbissene Krieg, den Putin 2000 im Nordkaukasus entfesselte, ist noch nicht vorbei: Trotz der 200.000 Toten und der Installation einer Diktatur von Moskaus Gnaden, die schrankenlos schaltet und waltet, hat die Instabilität auf die Nachbarrepubliken übergegriffen. Gehen wir weiter zum katastrophalen demografischen Niedergang, zur allgegenwärtigen Trunksucht, zur Ausbreitung von Tuberkulose und Aids, zur Arbeitslosigkeit und zur Prostitution, zum Drogenmissbrauch und zur allgemeinen Hoffnungslosigkeit, auf die man stößt, sobald man die großen Städte verlässt.

Die Waldbrände des Sommers, die der Staat lange Zeit nicht in den Griff bekam, zeugen von dem Chaos eines Landes, in dem die Inkompetenz ganz oben bei denen da unten zu einer Haltung des "Alles ist egal" führt.

Was auch immer naive Gemüter predigen mögen, und was auch immer die Söldlinge hinausposaunen: Putin hat mitnichten das Prestige Russlands wiederhergestellt. Was seinen alten Schüler Dmitri Medwedjew anbelangt, den gegenwärtigen Präsidenten und ehemaligen Chef von Gazprom, so verfügt dieser zweite Steuermann über keine wirkliche Macht und genügt sich darin, fromme Worte von sich zu geben, wohltemperierte Kritik, um das Publikum zu besänftigen. Guter Bulle, schlechter Bulle heißt dieses Spiel - die Seilschaften halten zusammen.

Russland steckt im Morast der Korruption fest, gleichzeitig bleibt es jenes Land, dessen Hochkultur, trotz des Zarismus, Europa in der Epoche vor 1914 erhellte.

Dieses "andere" Russland, jenes von Dostojewski und Tschechow, jenes von Sacharow und Solschenizyn, jenes von Anna und Natascha ist nicht tot. Der unbezwungene Widerstand Chodorkowskis liefert dafür den Beweis. Er hätte fliehen können, doch er hat sich dafür entschieden zu bleiben und dem die Stirn zu bieten, was er die "korrumpierte Vertikale" der Macht nennt. Schuldig folglich. Entschieden schuldig, denn "in Freiheit", so drückt es ein Moskauer Politologe aus, "verkörperte Chodorkowski in den Augen des Volkes eine Mischung aus Monte Christo und Nelson Mandela".

So hat es mir mit nahezu identischen Worten auch Anna Politkowskaja kurz vor ihrer Ermordung gesagt ... (André Glucksmann, STANDARD-Printausgabe, 15.12.2010)