Maurizio Grassano war ein aufstrebender Lega-Politiker, bevor er als Präsident des Gemeinderates von Alessandria wegen Betrugs verhaftet wurde. Die Lega Nord schloss ihn zwar aus, konnte aber nicht verhindern, dass er direkt aus dem Hausarrest ins Parlament aufrückte. Auf seiner langwierigen Suche nach einer neuen politischen Heimat wurde der Abgeordnete jetzt fündig: sein neuer politischer Schirmherr heißt Silvio Berlusconi. Gerüchte um Stimmenkauf weist der 48-Jährige unter Hinweis auf seine ethische Einstellung empört zurück.

Wenige Stunden vor dem Vertrauensvotum über Regierungschef Berlusconi gleicht das teuerste und ineffizienteste Parlament Europas einem Tollhaus. So ungehemmt scheint die Einkaufstour, dass die italienische Staatsanwaltschaft die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens beschlossen hat - vorerst gegen unbekannt. Der Stimmenkauf, wettert Oppositionsführer Pier Luigi Bersani, "lässt Italien im Kreis der demokratischen Nationen erröten" .

Für eine Stimme, weiß der unabhängige Abgeordnete Massimo Calearo, werde bis zu einer halben Million Euro geboten. Auch Ministerposten und mehrjährige Beraterverträge für Verwandte gelten als attraktives Lockmittel. Es ist die Stunde der Hinterbänkler. Farblose Parlamentarier, die der Öffentlichkeit unbekannt und in Talkshows nie zu sehen sind, treten nun aus dem Schatten der Anonymität ins grelle Scheinwerferlicht.

Sie beichten ihre vermeintliche Gewissensnot - wie der "Italien der Werte" -Abgeordnete Antonio Razzi. Er habe sich in der militanten Anti-Berlusconi-Partei "unverstanden gefühlt" , klagt der biedere Familienvater. Razzi hatte letzthin mit der Feststellung Aufsehen erregt, man habe ihm für einen Parteiwechsel die Tilgung seines Wohnbaudarlehens angeboten. In einem weinerlichen Brief an den Parteichef schildert er seinen "16-jährigen Leidensweg" unter Antonio Di Pietro. Nur: Warum wechselt Razzi ausgerechnet drei Tage vor dem entscheidenden Misstrauensvotum ins gegnerische Lager?

Drei schwangere Abgeordnete

Im Abstimmungs-Toto spekulieren die Zeitungen täglich über den Ausgang des Votums, registrieren Unentschlossene und signalisieren potenzielle Überläufer der letzten Stunde. Schaffen die drei hochschwangeren Abgeordneten der Opposition noch die Teilnahme an der Wahl? Wer könnte sich während der Abstimmung aus dem Sitzungssaal schleichen?

Unversehens sieht sich auch die Südtiroler Volkspartei hofiert, die aus ihrer Abneigung für den Premier nie ein Hehl machte. Die Enthaltung ihrer zwei Abgeordneten könnte das Überleben Berlusconis sichern. Der Zusicherung von Landeshauptmann Luis Durnwalder, seine Partei werde sich "von den Angeboten nicht locken lassen", schenken italienische Medien kaum Glauben.

Hysterische Propaganda

Es ist ein gespenstischer Auftritt, den der 74-jährige Premier für seinen Machterhalt inszeniert. Seine Gegner verunglimpft er als "machthungrige Umstürzler" , die ihn "aus dem Weg räumen wollten, um sich mit der Linken zu verbünden" . Die Anhänger des verhassten Rivalen Gianfranco Fini brandmarkt er als Abtrünnige, die "zeitlebens mit dem Brandmal des Verrats leben müssen" . Das hysterisch anmutende Vokabular hat freilich mit einem politischen Konflikt wenig zu tun. Es ist der Krieg gegen einen Verbündeten, der sich dem absoluten Machtanspruch des Cavaliere nicht fügen wollte.

Gleichzeitig markiert der lautstarke Streit um Berlusconis Verbleib im Amt den absoluten Tiefpunkt der wenig glorreichen italienischen Politik. Zunehmend angewidert verfolgen die Italiener das politische Gerangel um puren Selbsterhalt . Italiens Politik habe "jede erträgliche Grenze zur Garstigkeit überschritten" , erregt sich die Turiner Tageszeitung La Stampa. In seinem jüngsten Bericht zur Lage der Nation zeichnet das führende Sozialforschungsinstitut Censis ein deprimierendes Bild Italiens: "Ein verflachtes, mutloses Volk ohne Regeln und Träume, ohne Zuversicht und Wünsche." Ein Land, in dem "Gleichgültigkeit, Zynismus und Egoismus" zunehmen und in dem "zwei Millionen Jugendliche weder studieren noch arbeiten oder eine Beschäftigung suchen" .

Das Misstrauensvotum, das die Medien seit Wochen beschäftigt, lässt den von anderen Sorgen geplagten Normalbürger kalt. Denn wie auch immer die Abstimmung endet: Die Italiener müssen sich auf Monate politischen Stillstands einrichten. (mu/DER STANDARD, Printausgabe, 14.12.2010)