Zweifach steht China dieser Tage in den internationalen Schlagzeilen: In der Pisa-Studie der OECD haben Schüler aus Schanghai, die außer Konkurrenz getestet wurden, weltweit am besten abgeschnitten und damit die hohe Qualität des chinesischen Bildungssystems demonstriert. Und gleichzeitig setzt die chinesische Regierung alle Hebel in Bewegung, um einen ihrer klügsten Köpfe zum Schweigen zu bringen.
Die Kampagne gegen den inhaftierten Schriftsteller Liu Xiaobo und die Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn ist die düstere Kehrseite jenes chinesischen Gesellschafts- und Entwicklungsmodells, das in einer Generation ein rückständiges Agrarland in eine wirtschaftliche Großmacht verwandelt hat. China fordert von seinen Bürgern geistige Hochleistungen, um den Rückstand gegenüber dem Westen so rasch wie möglich aufzuholen. Aber wer es dabei wagt, unkonventionell oder gar kritisch zu denken, den trifft sogleich der Zorn des Regimes.
Eines erschreckt am erbitterten Kampf Pekings gegen alle, die Liu heute, Freitag, in Oslo ehren wollen, besonders: Hier sind keine zynischen Machtpolitiker am Werk, sondern Überzeugungstäter, die in dem mutigen Dissidenten wirklich einen Kriminellen sehen, der die politische Ordnung bedroht. Auch wenn es den Machthabern gelingt, mehr als ein Dutzend Staaten von der Teilnahme an der Nobelpreiszeremonie abzuhalten, spielen sie durch ihr brutales Vorgehen bloß ihrem Gegner in die Hände. Denn sie bestätigen damit, wie recht Liu mit seiner Kritik am chinesischen Unterdrückungsstaat hat.
Was ihn für Peking so gefährlich macht, ist die Unterstützung, die sein Kampf für Offenheit, Meinungsfreiheit und mehr Demokratie auch unter Chinas Eliten genießt. Seit mehr als 30 Jahren plagen sich die kommunistischen Reformer mit der Frage, wie sie mit ihren Intellektuellen umgehen sollen. Schon Deng Xiaoping konnte sich nicht entscheiden: Mehrmals ermutigte er freies Denken, um dann jene, die seinem Aufruf folgten, brutal zu verfolgen. Gegen den Protest engster Mitarbeiter wie des damaligen Premiers Zhao Ziyang entschied sich Deng am Vorabend des 4. Juni 1989 für die Niederschlagung der Proteste am Tiananmen-Platz, an denen auch Liu führend beteiligt war.
Seither gilt die Devise: Gedankenfreiheit endet dort, wo das Machtmonopol der KP beginnt. Die Führung unter Hu Jintao fährt einen besonders harten Kurs, der nicht nur von Intellektuellen, sondern auch von früheren KP-Funktionären offen kritisiert wird. Diese interne Debatte, die dank des Internets nach außen dringt, straft die Behauptung Lügen, die Solidarität mit Liu sei eine westliche Verschwörung gegen Chinas Interessen und Werte.
Was die offenen und stillen Kritiker wohl wissen: China braucht Freidenker wie Liu Xiaobo, wenn es die geistigen Kräfte seiner Bürger - und die schulischen Leistungen seiner Jugend - zum Aufbau einer stabilen Wohlstandsgesellschaft nutzen will. Wer nicht nur Handys produzieren, sondern die nächste Smartphone-Generation entwickeln soll, der muss die Freiheit haben, Kritik zu üben, Missstände anzuprangern und politisch mitzureden. Und China braucht Versöhner wie Liu Xiaobo, um die massiven sozialen Gegensätze und Konflikte in der Gesellschaft zu überwinden.
Der in Oslo geehrte Gefangene ist ein
Hoffnungsträger nicht nur für die Opposition, sondern für all jene, die
an Chinas große Zukunft glauben. (Eric Frey/DER STANDARD, Printausgabe,
10.12.2010)