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Ruppige Verhältnisse aus den "goldenen" 1970er-Jahren: Sarah Viktoria Frick und Johannes Krisch in "Stallerhof".

 

Foto: Strauss/APA

Autor - Der bayerische Dramatiker und Fernsehschauspieler Franz Xaver Kroetz (64) schrieb nach eigenem Bekunden "50 plus" Stücke, deren wichtigste allesamt in den 1970er-Jahren - meist unter reger Anteilnahme einer skandalbereiten Öffentlichkeit - uraufgeführt wurden. Mit dem Anspruch, die Welt so abzubilden, wie sie wirklich ist (war oder gewesen sein soll), wurde Kroetz zum linken Gewissen der BRD. Mit dem Aufkommen der hedonistischen 1980er bewohnte Kroetz die Klatschspalten: Er gab den "Baby Schimmerlos" und ging eine Ehe mit der Schell-Tochter Marie-Theres Relin ein. Heute lebt das Kind einfacher Leute aus Tirol und Bayern in München und Teneriffa und sagt von sich als Dramatiker, dass seine "Goldader versiegt", sein Antrieb verstummt sei: "Ich hab' seit 2004 nichts geschrieben!" Deifi!

Bieseln - Die bayerische Umschreibung für das Urinieren verheißt für die Männerfiguren das große Abenteuer. Wer "bieselt", hat nicht nur ein paar "Maß" glücklich verarbeitet. Er nutzt den Abort auch, um zu masturbieren. Am Klo werden in Kroetz' Theaterwelt die Größenverhältnisse absehbar zurechtgerückt.

Genitiv - Die Figuren des großen Sozialrealisten Franz Xaver Kroetz machen sich die Verdrehtheiten der bayerischen Sprache mit großem Gewinn zunutze. Sagt etwa die Bäuerin ihrer zurückgebliebenen Tochter den Besuch von deren Bräutigam an, so heißt es: "Da ist wer für deiner." Kein Wunder, dass die solcherart angesprochene Beppi kaum reagieren mag. Obwohl sie den Urheber ihrer Mutterschaft schon auch anerkennt: "Der Sepp!"

Handlung - Die Fabel von "Stallerhof", das 1972 im Hamburger Deutschen Schauspielhaus uraufgeführt wurde, passt bequem auf einen einfachen Bierdeckel. Der ältliche Sepp (Johannes Krisch), der dem Staller und der Stallerin als Knecht zur Hand geht, hängt der zurückgebliebenen Beppi (Sarah Viktoria Frick) ein Kind an. Die Begutachtung des Skandals verleitet die Mutter (Barbara Petritsch) zum Abtreibungsversuch auf der Küchenbank. Dieser bleibt erfolglos. Mama nimmt das Scheitern ihrer Abortusbemühungen gottlob hin wie ein Mann: "Wenns nix nutzt, dann nutzt es nix."

"Nachad" - Die natürliche Zeitenfolge fungiert in den Kroetz-Dialogen fast immer als Kausalersatz: Wenn etwas so und so ist, dann wird es "nachad" (nachher) schon auf etwas anderes hinauslaufen. Gnade Gott den Beteiligten!

Pause - In den Stücken Ödön von Horváths lauschen die Figuren immer dann, wenn es "Pause" heißt, ihren eigenen, reichlich monströsen Verlautbarungen hinterher: als wäre soeben die Musik ihrer Seelen verklungen. Die Kroetz'schen Bauern sind aus härterem Holz geschnitzt. Mit jeder "Pause" verschließen sich ihre Gemüter noch fester. Sie werden dünnlippig und ziehen sich in die Ruinen ihrer dialektal eingefärbten Weltbilder zurück. Mitunter raffen sie sich dann, nach Verstreichen einiger Schrecksekunden, zu großen Absichtserklärungen auf: "Redn wird man dürfn und sich was ausdenkn, was einem gfallt."

Sequel - Aus dem Einöd-Stoff von "Stallerhof" destillierte Kroetz ein Folge-Drama mit dem Titel "Geisterbahn" (1975): In ihm zieht Beppi mit ihrem allseits unerwünschten Kind zum Sepp nach München. Die Idylle im Licht eines unerwünschten Hochkletterns auf der Sozialleiter scheitert ebenso absehbar wie furchtbar. Der Sepp stirbt. Die Beppi erwürgt ihr Kind, als sie es der Sozialfürsorgestelle ausliefern soll.

Sozialrealismus - Die Absichten dieser historisch gewordenen Theaterrichtung sind denen der guten Mutter Aufklärung verpflichtet. Ihr Ziel: Weltgegenden, die man mit guten Gründen als rückständig erkannt hat, mit Demokratie zu fluten (Oberbayern, Österreich). Die bayerische Spielart der Bewegung gebar Dramatiker wie Martin Sperr, Herbert Achternbusch oder eben Kroetz: Sie alle schrieben, mit zum Teil beachtlichen Ergebnissen, der Brecht-Freundin Marieluise Fleißer ("Fegefeuer in Ingolstadt") hinterher.

Sprachlosigkeit - Die Kroetz-Premiere am 10. 12. im Kasino inszeniert David Bösch. Abzuwarten bleibt, wie er das Problem der "Sprachlosigkeit" in den Griff bekommt: Kroetz-Figuren sind gewiss keine Exponenten der jüngsten Pisa-Katastrophe, sondern stolz auf ihre Schweigsamkeit. (Ronald Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 10.12.2010)