In Griechenland sei die Flüchtlingsversorgung zusammengebrochen, warnt EGMR-Richterin Elisabeth Steiner - und hofft, dass auch Österreich noch einen Abschiebestopp beschließt.

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STANDARD: In dem geheimen US-Botschaftskabel, das Wikileaks veröffentlicht hat, wird der Stillstand in der österreichischen Außenpolitik kritisiert. Nun wird aus Österreich seit über einem Monat trotz brieflichen Ersuchens des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (siehe "Wissen") weiter nach Griechenland abgeschoben: Noch ein Flauten-Beweis?

Steiner: Ich gestehe, dass ich bestürzt und betroffen bin, dass Österreich trotz des Stopp-Ersuchens weiter Asylwerber nach Griechenland bringt. Ein so reiches, weit entwickeltes, sonst menschenrechtskonform agierendes Land hat es nicht notwendig, ein derartiges Verhalten an den Tag zu legen. England, Deutschland, Schweden, Norwegen und Finnland haben die Griechenlandabschiebungen inzwischen gestoppt.

STANDARD: Reichen Überprüfungen im Einzelfall nicht aus?

Steiner: Nein, denn Griechenland ist derzeit nicht in der Lage, entsprechende Zusicherungen zu machen. In diesem Land, wo 88 Prozent aller Flüchtlinge die EU betreten, ist die Lage desaströs. Es gibt praktisch keine Asylverfahren. Asylanträge können nur einmal pro Woche in einem Athener Amt gestellt werden. Das schaffen je zwischen 20 und 25 Menschen. Haben sie keinen ständigen Wohnsitz, wird ihr Verfahren nicht weitergeführt. Doch woher sollen sie einen ständigen Wohnsitz haben - im gesamten Athener Raum gibt es nur rund 800 Flüchtlingsbetten? Daher werden in Griechenland nur 0,09 Prozent aller Asylanträge positiv erledigt, im europäischen Durchschnitt sind es 12 Prozent.

STANDARD: Wie sollte sich Österreich verhalten: Alle Asylwerber, für die Griechenland zuständig wäre, für immer im Land lassen?

Steiner: Nein, vielmehr von seinem Eintrittsrechts ins Asylverfahren Gebrauch machen - also die Verfahren in Österreich durchführen. Wird der Asylantrag abgelehnt, kann der Flüchtling zurückgeschickt werden: In das Land, aus dem er kam, nicht über das völlig überlastete Griechenland.

STANDARD: Derzeit bleibt gegen Griechenlandrückführungen aber nur die Möglichkeit, einen Antrag auf "interim measure" zu stellen - auf einen individuellen Abschiebestopp, die der Menschenrechtsgerichtshof in allen Fällen binnen Tagesfrist ausspricht. Gehen alle Anträge aus Österreich über Ihren Schreibtisch?

Steiner: Ich habe das Vorschlagsrecht, die Entscheidung trifft der Präsident der Sektion. Bisher wurden in diesem Jahr in19 Fällen solche Maßnahmen gegen Griechenlandrückführungen aus Österreich gewährt. Manche Anträge kamen direkt aus der Schubhaft.

STANDARD: Von dort ist es recht schwer, einen Antrag zu stellen, weil es keine verbindliche Rechtsberatung gibt: Ein Problem?

Steiner: Das Fehlen einer verbindlichen Rechtsberatung stellt jedenfalls ein offensichtliches Rechtsschutzdefizit dar. Dabei ist ein wirksamer Rechtsschutz ein Eckpfeiler der österreichischen Verfassung. Wohin fehlender Zugang zum Recht führt, zeigt der Fall eines afghanischen Schubhäftlings, dem wir am 27. Oktober auf Betreiben seiner Anwältin eine vorläufige Maßnahme zum Stopp seiner Griechenlandabschiebung zuerkannt haben. Am 2. November wurde er zum Flughafen gebracht und ist von dort völlig ohne Prüfung seines Falls - ob er ein traumatisierter, zu Recht Asylbegehrender oder aber ein Wirtschaftsflüchtling ist - nach Afghanistan zurückgeflogen worden. Ganz so, als hätte er nur zwischen Griechenland und Afghanistanrückkehr wählen können. Ob ihm mitgeteilt wurde, dass es aus Strassburg einen Entscheid gab, laut dem er bis zum Ende seines Asylverfahrens in Österreich hätte bleiben können, ist fraglich. Kein human und gerecht denkender Europäer kann für solche Abschiebungen sein. Ich hoffe und glaube, dass auch die österreichische Regierung zu der Erkenntnis kommen wird. (Irene Brickner, DER STANDARD; Printausgabe, 9.12.2010)