Außer der Schönen im Turm, ihrem Retter und der bösen Zauberin ist in Disneys "Rapunzel - Neu verföhnt" von der Erzählung der Brüder Grimm nichts geblieben.

Foto: Walt Disney Studios

Wien – Aus dem Meer der Laternen ragt eine hervor: Jedes Jahr lässt der König am Geburtstag seiner verschwundenen Tochter tausende Lichter in den Himmel steigen, doch dieses eine ist so nahe, dass man meint, es berühren zu können. Denn es umkreist nicht nur die heimgekehrte Prinzessin, die das Spektakel vor dem Palast bewundert, sondern auch uns Zuschauer. Bis es in die Ferne entschwebt und ein staunendes Publikum zurücklässt.

Selten haben Einsatz und Wirkung des 3D-Effekts in der jüngeren Ära des Animationsfilms für einen Moment so fantastisch zueinander gefunden wie im Disney-Film Rapunzel: Achtzehn Jahre lang beobachtet die Königstochter aus ihrem versteckten Turm das Lichtermeer, bis ihre Ängste vor der Außenwelt wie die Laternen in den Wind geschrieben sind. Nun wird die Faszination für sie zum buchstäblichen Beweggrund.

Außer der Schönen im Turm, ihrem Retter und der bösen Zauberin ist von der Erzählung der Brüder Grimm natürlich nichts geblieben: Statt Feldsalat gibt es eine wundersame Blume; das Armeleutekind ist eine Prinzessin mit magischem Haar; die böse Hexe tut dem entführten Mädchen schön, weil sie selbst schön sein will und dessen goldene Haare als Jungbrunnen missbraucht; und der Prinz ist ein Dieb und Draufgänger, dem die Eitelkeit bald ausgetrieben wird – so wie dem alten Volksmärchen seine Tiefenpsychologie und Düsternis. Denn was heute zählt, ist freche Selbstbehauptung: Also schwingt das glupschäugige Rapunzel, genannt Blondie, tapfer seine Bratpfanne gegen den Schmachtfetzen von Befreier namens Flynn Rider (als Hommage an Errol Flynn), hat ein munteres Chamäleon an seiner Seite und entdeckt Schritt für Schritt die gefährliche Schönheit der computerbunten Welt.

Solcherart befreit die Jungfrau aus dem Turm in erster Linie sich selbst, denn im Grunde erzählen die Regisseure Nathan Greno und Byron Howard eine Emanzipationsgeschichte fortwährender Bewährungsproben. Da stellen dem jungen Glück nicht nur Soldaten der Palastwache nach, sondern auch noch die alte Zauberin und Flynns fiese Diebskumpane, während es sich durch ein Räubernest schlägt oder in einem Bergwerk über Wasser hält.

Wechsel der Tonlage

Natürlich entgeht auch Rapunzel nicht dem ewigen Vorwurf an Disney, reaktionäre Erzählmuster zu verfestigen, aber als progressiv konnte schon die Vorlage nicht bezeichnet werden. Dafür wechselt Rapunzel, seiner Verpflichtung auf alte Werte zum Trotz, erstaunlich oft die Tonlage zwischen Abenteuerfahrt, Liebesromanze und überdrehter Komödie, findet mitunter durch klug platzierte Songs von Alan Menken (Mother Knows Best!) gar zu Musical- Qualitäten. Dass Rapunzel mit dem englischen Originaltitel Tangled versehen wurde, um nach der Enttäuschung von The Princess and the Frog einen Teil der Zielgruppe nicht mit einem Märchen- und Mädchentitel zu verschrecken, überrascht schon weniger und beweist geringes Vertrauen in Rapunzels Bratpfannen-Durchschlagskraft. Die wahre Selbstbehauptung beginnt eben erst an der Kinokassa. (Michael Pekler, DER STANDARD – Printausgabe, 7./8. Dezember 2010)