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Das "Museum der Besatzung" in der lettischen Hauptstadt Riga dokumentiert die (vorübergehende) Komplizenschaft Hitlers und Stalins in ihren vertraglich vereinbarten Einflusszonen.

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Timothy Snyder: "Diese moralische Erpressung, dass man über etwas nicht schreiben darf, ist aus der Sicht eines seriösen Historikers abzulehnen."

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Standard: Ihr neues Buch "Bloodlands" wurde äußerst positiv, teils aber auch kritisch aufgenommen. Kritiker meinen, dass Sie die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage stellen, indem Sie Stalins Massenmorde mit jenen Hitlers vergleichen. Dadurch würden Sie Rechtsextremisten und Ultranationalisten in Osteuropa einschließlich Russlands ermuntern, die die Vernichtung der Juden herunterspielen und stattdessen das Leiden ihrer eigenen Nationen herausstreichen.

Snyder: Das Buch ist der erste Versuch, die gesamte Politik der Massenmorde sowohl der stalinistischen Sowjetunion als auch von Nazi-Deutschland zu beschreiben. Meine Prämisse ist die Beobachtung, dass fast alle deutschen und ein unverhältnismäßig hoher Anteil der sowjetischen Massenmorde in ein- und demselben Gebiet stattfanden, das ich die „bloodlands" nenne: das westliche Russland, das Baltikum, Weißrussland, die Ukraine und der Großteil Polens. Nur wenn man den Holocaust in sein historisches Umfeld setzt, kann man am besten seinen historisch präzedenzlosen Charakter herausstreichen.

Standard: Worauf wollen Sie damit hinaus?

Snyder: Ich wollte nicht zuerst vergleichen, sondern aufzeichnen, beschreiben und erklären. Das ist bisher noch nie so geschehen. Sie haben natürlich Recht: Wenn man Nazi-Deutschland und die Sowjetunion in einer Geschichte zusammen- bringt, löst man zwangsläufig eine Kontroverse aus. Aber ich will herausstreichen, dass dieses Gebiet zu unterschiedlichen Zeiten von den Nazis und von den Sowjets beherrscht wurde. Das bedeutet, dass die rund hundert Millionen Menschen, die dort lebten, selbst ständig Vergleiche zogen, was oftmals eine Frage von Leben und Tod war.

Standard: Der Vergleich ist also auch aus der Sicht des Historikers zulässig?

Snyder: Zu suggerieren, dass der Vergleich ein Tabu ist, erscheint mir sehr befremdlich. Denn er war eine essentielle Erfahrung der Menschen, die in jenem Gebiet lebten.

Standard: Wie sehen Sie dann die Debatte, die Ihr Buch ausgelöst hat?

Snyder: Litauische und ukrainische Nationalisten haben überhaupt keine Freude mit mir. Denn ich beschreibe im Buch die Beteiligung politisch motivierter Litauer und Ukrainer und anderer an den Morden im Rahmen des Holocaust. Als Historiker ist es für mich das Wichtigste zu beschreiben und zu erklären, was geschah. Diese Art moralischer Erpressung, dass man über dieses oder jenes nicht schreiben darf, weil es indirekt irgendwie die politische Diskussion beeinflussen könnte, ist aus der Sicht eines seriösen Historikers abzulehnen.

Standard: Sie unterstreichen, dass die, auch ethnisch motivierten, Massenmorde in der Sowjetunion – an den Kulaken (Bauern), den Polen und anderen Gruppen – der Vernichtung der Juden durch die Nazis vorausgingen. Besteht hier neben dem chronologischen auch ein logischer Zusammenhang?

Snyder: Im wesentlichen gibt es drei chronologische Phasen: 1933 bis 1939, als die Sowjets im Maßstab von Millionen und die Nazis im Maßstab von Hunderten oder Tausenden mordeten; 1939 bis 1941, als Nazi-Deutschland und die Sowjetunion militärische Verbündete waren und im selben Ausmaß mordeten, jeweils etwa 200.000 Menschen; dann die dritte Phase nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, als die Deutschen fast das ganze Morden übernahmen, im Maßstab von Millionen.

Standard: Gab es Phasen der Interaktion zwischen beiden?

Snyder: Es gab solche Punkte der Interaktion, aber sicher nicht während des Sowjet-Terrors in den 1930er-Jahren. Die Deutschen wussten gar nicht von diesen ethnischen Massenmorden. Nicht einmal das direkt betroffene Polen – rund 100.000 ethnische Polen wurden in der Sowjetunion erschossen – und sein Geheimdienste wussten es.

Standard: 1986 löste der deutsche Historiker Ernst Nolte einen heftigen Sreit aus, als er fragte: „War nicht der ,Klassenmord durch die Bolschewiki‘ das logische und faktische Prius (Vorher) des ,Rassenmords‘ durch die Nationalsozialisten?" Legt Ihr Buch nicht einen ähnlichen Schluss nahe?

Snyder: Nein, ich habe überhaupt keine Sympathien für diese Sichtweise. Es gibt fatalerweise einige konkrete Wellen, in denen die Sowjetunion und Nazi-Deutschland einander beeinflussten. Aber der Gedanke eines logischen Vorher, Noltes ganze Auffassung einer Logik in diesem Sinn, ist mir völlig fremd. Mein angelsächsisches Gehirn versteht ein solches „logisches Vorher" nicht. Das ist eine Sache, die man empirisch erforschen sollte, statt eine große Frage zu stellen. Nolte, der ein Historiker des italienischen Faschismus war und nichts Genaueres über Osteuropa wusste, hat das auf eine abstrakt-provokative Art getan.

Standard: Wie ist dann die Vernichtungspolitik der Nazis zu verstehen?

Snyder: Die Idee der „Rassenhygiene", des rassisch motivierten Tötens, beginnt damit, sozial „unbrauchbare" Menschen in Konzentrationslager zu stecken, geht dann weiter zur sogenannten Eugenik-Politik gegenüber den geistig Kranken und Behinderten. Diese Rassenpolitik führte direkt zum Holocaust, auch in einem technischen Sinn, durch das Töten mit Karbonmonoxid. Und das alles hatte absolut nichts mit der Sowjetunion zu tun. Natürlich war es danach von Bedeutung, dass die Sowjets den Deutschen halfen, in Polen einzumarschieren, und Hitler dann die Sowjetunion zu zerstören versuchte, die er als einen jüdischen Staat betrachtete. Ohne diese territoriale Expansion wäre der Holocaust unmöglich gewesen. Ich will nicht die Sowjetunion und Nazi-Deutschland auf ein Phänomen reduzieren, ich will nicht die Nazis durch die Sowjets erklären und umgekehrt.

Standard: Sie schreiben, dass die „Endlösung" der Nazis für die Juden ursprünglich für nach dem Krieg geplant war. Warum wurde dieses Ziel geändert?

Snyder: Das ist eine der großen Fragen, die Holocaust-Historiker in den letzten 15 Jahren zu klären versuchten. Dazu müssen wir verstehen, dass die „Endlösung" während der meisten Zeit der Nazi-Herrschaft als eine Art Deportations-Projekt angesehen wurde: Deportation in ein Reservat nahe dem polnischen Lublin, Deportation nach Madagaskar; dann, 1940, Deportation der Juden zum damaligen sowjetischen Verbündeten der Nazis; 1941 – Deportation in eine besiegte Sowjetunion. Das zugrunde liegende Ziel Hitlers war dabei immer die physische Vernichtung der Juden.

Standard: Der Verlauf des Krieges in der Sowjetunion erzwang offensichtlich eine Änderung der Strategie.

Snyder: Deportation wurde wegen des Widerstandes der Sowjets unmöglich – aber Töten war möglich. Die Tötungsaktionen der deutschen „Einsatzgruppen" richteten sich anfangs, unter anderen, gegen männliche Juden. Aber schon im Juli 1941 drängte Himmler die Waffen-SS zu Aktionen gegen Frauen und Kinder. Im August gab es bereits Aktionen im Ausmaß von mehr als 10.000 Opfern auf einmal. Ab September wurden dann schon, gewissermaßen regulär, ganze jüdische Gemeinden vernichtet. Himmler konnte also Hitler schon darlegen, wie die „Endlösung" tatsächlich aussehen könnte. Und als der Krieg nicht mehr nach deutschem Plan verlief, wurde die „Endlösung" in Form des Holocaust die Nazi-Utopie, die tatsächlich verwirklicht werden konnte.

Standard: Einige der heutigen Staaten auf dem Gebiet der einstigen „bloodlands", vor allem Russland, Weißrussland und neuerdings wieder die Ukraine, haben Probleme mit Demokratie, Menschenrechten und Medienfreiheit. Ein Grund dafür scheint zu sein, dass sie mit ihrer Geschichte im allgemeinen und mit der Rolle Stalins im besonderen nicht ins Reine gekommen sind.

Snyder: Auch die meisten erfolgreichen Demokratien sind mit ihrer Vergangenheit nicht ins Reine gekommen. Als Amerikaner sage ich, dass wir niemals mit der Ausrottung der Ureinwohner und nur teilweise mit der ganzen Bedeutung der Sklaverei ins Reine gekommen sind. Trotzdem sind wir eine erfolgreiche Demokratie. Das gilt auch für Ihr Land – trotz der Tatsache, dass Österreich weit davon entfernt ist, mit seiner Vergangenheit als Teil des Deutschen Reichs im Reinen zu sein.

Standard: Was sind die entscheidenden Kriterien eines adäquaten Umgangs mit der Geschichte?

Snyder: Ein sehr wichtiges Zeichen für das Entstehen einer Zivilgesellschaft, die die Demokratie nachhaltig stärken könnte, ist die Fähigkeit, über die Vergangenheit frei zu diskutieren. In Weißrussland steht es damit am schlechtesten, in der Ukraine, trotz vieler Probleme, am besten, Russland liegt in der Mitte. Aber wenn wir diese Länder kritisieren, sollten wir zugleich betonen, dass ihre Probleme mit der Vergangenheit unglaublich kompliziert sind und dass der Umgang damit selbst im besten Fall sehr schwierig ist.

Standard: Vor allem in Russland gibt es eine Art Stalin-Renaissance. Unter Präsident Putin wurde Stalins Rolle als Feldherr im Zweiten Weltkrieg in den Schulbüchern positiv neubewertet. Wie konnte das geschehen angesichts der Tatsache, dass Stalin Krieg gegen das eigene Volks geführt hat, mit Millionen Opfern?

Snyder: Putin hängt sehr stark der Ideologie eines starken Staates nach. In Stalins Herrschaft wird daher herausgestrichen, dass er ein entschlossener Führer und ein guter Manager gewesen sei. Dies führt dazu zu sagen: Der Terror der 1930er-Jahre mag bedauerlich gewesen sein, aber er war vielleicht notwendig, um das Land auf den Krieg vorzubereiten. Ich glaube freilich, dass der Terror die Sowjetunion viel verwundbarer machte. Und Stalin war kein besonders guter Kriegs-Manager. Vielleicht diente die Allianz mit Hitler zunächst sowjetischen Interessen. Aber dass Stalin nicht mit der deutschen Invasion 1941 rechnete, war ein furchtbarer Fehler, der Millionen und Abermillionen Menschenleben kostete. Putin will sozusagen den Manager Stalin vom Massenmörder Stalin trennen. Aber wenn man Stalin als guten Manager darstellt, rechtfertigt man damit seine Politik, einschließlich der Massenmorde.

Standard: Würden Sie das Erstarken und unbehinderte Agieren russischer Ultranationalisten und Rechtsextremisten auch in diesem Kontext sehen?

Snyder: Stalin ist ein Problem für russische Nationalisten, weil er nicht Russe war. Der russische Nationalismus hat auf andere Art mit Putins Programm zu tun: Putin will ein Russland mit einer starken Geschichte definieren. Das bedeutet, andere Länder als Outsider und Feinde zu behandeln. Letztlich könnten Putin und (der gegenwärtige Präsident) Medwedew Angst vor dem russischen Nationalismus bekommen, weil er sehr leicht außer Kontrolle geraten und auch Russland selbst bedrohen kann. Denn auch nach dem Ende der Sowjetunion ist Russland ein Vielvölkerstaat, und auch die russische Elite ist sehr multinational.

Standard: Der französische Historiker Ernest Renan sagte: „Vergessen oder, ich würde sagen, historischer Irrtum ist Teil des Wesens einer Nation." Stimmen Sie zu?

Snyder: Renan hat grundsätzlich Recht. Gegenüber meinen Studenten zitiere ich immer das französische Original aus derselben Passage von ihm: „avoir déjà oublié" – schon vergessen zu haben. Das heißt: Wenn man national fühlt, hat man bestimmte Episoden der Vergangenheit vergessen. Alle großen nationalen Geschichtsschreibungen – der Franzosen, der Tschechen, der Deutschen, der Russen, der Ukrainer etc. – stammen aus dem 19. Jahrhundert und schufen ein Narrativ des Fortschritts, der von nationalen Gruppen erzielt wurde. Dabei mussten viele Dinge „vergessen" werden, beispielsweise das Massaker an den Hungenotten in Frankreich. Im 21. Jahrhundert kann man Geschichte nicht mehr so schreiben.

Standard: Sondern wie?

Snyder: Man muss die „vergessenen" Dinge in den nationalen Geschichtsschreibungen dokumentieren, und warum sie vergessen wurden. Und versuchen, ihre Bedeutung zu verstehen und dann eine Geschichte zu schreiben, die keine nationale ist. Auch deshalb habe ich „Bloodlands" so geschrieben, wie ich es tat. Ich habe es nicht auf irgendeine Nation oder einen Staat begrenzt, sondern wählte eine Region aus, die unter einer besonderen Katastrophe gelitten hat. Generell will ich nicht so sehr nationale Geschichte kritisieren als vielmehr verschiedene Arten von Geschichte, auch einzelner Nationen, nutzen, um Phänomene jenseits der Nationen zu erkennen. Wenn man diese Phänomene einmal versteht, kann man auch die jeweilige nationale Geschichte besser verstehen. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 7./8. 12. 2010)

--> Holocaust als Ersatzkrieg

Holocaust als Ersatzkrieg: Sowjet-Widerstand erzwang Änderung der Nazi-Strategie

Coverfoto: C.H.Beck

Geplant war ein sechs- bis achtwöchiger Blitzkrieg gegen die Sowjetunion. Erst danach sollte die "Endlösung" der Judenfrage in Angriff genommen werden. Aber nach anfänglichen Erfolgen der deutschen Invasionstruppen – begünstigt auch durch Stalins fatale Fehleinschätzung von Hitlers Absichten – erstarkte der sowjetische Widerstand. So wurde der Holocaust zu einer Art Ersatzfeldzug der Nazis.

Das ist eine der interessantesten Erkenntnisse, zu denen Timothy Snyder bei seiner Forschungsarbeit gelangt. Das Buch "Bloodlands" (Bodley Head, London 2010, £ 20,-) ist unter anderem Ergebnis des Forschungsschwerpunkts "Vereintes Europa – geteilte Erinnerung" am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Dort organisierte Snyder Ende September 2009 eine hochkarätig besetzte internationale Konferenz zum Umgang mit Erinnerungspolitik in Europa.

Ein Beispiel für politisch motivierte Amnesie: In der offiziellen Geschichte der Ukraine zu Sowjetzeiten wurden Juden kein einziges Mal erwähnt, nicht einmal im Kontext des Holocaust.

"Bloodlands" wird im Herbst 2011 auf Deutsch bei C. H. Beck erscheinen. (jk/DER STANDARD, Printausgabe, 7./8. 12. 2010)