Foto: Bernath
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Die Diplomatenschleuder des Herrn Assange, von der man nun nicht mehr weiß, ob sie einen ohne Ermüdung täglich noch bis Ostern 2011 unterhält, gerät zumindest in der Türkei in den weiten Bereich der Verschwörungstheorien und Nachrichtenneuerfindungen. Die „tags" lauten dabei: Wikileaks, Haydarpaşa, Nationalhymne.

Geschrieben und gedrechselt wird reichlich zum englischen Begriff „leak", für den es im Deutschen nur die trockene Übersetzung „Enthüllung" gibt. Das Wortreichtum im Türkischen deutet dagegen auf eine gewisse Professionalität auf diesem Gebiet hin: „sızak" (Wasser, das im Gebirge vom Felsen tropft), „sızıntı" (Rinnsal, Gerede, einsickernde Truppen), „sızmak" (durchsickern), „sızdırmak" (ausplaudern, jemanden schröpfen, durchsickern lassen).

Die Satirezeitungen beschäftigen sich diese Woche natürlich mit Wikileaks. „Penguen" stürzt sich auf den durchaus zweifelhaften Marketingerfolg der US-Depeschen für Erdogan. „So viel Reklame hätten wir mit Geld nicht machen können", freut sich der Regierungschef. Schließlich trägt die zweitgrößte Menge der diplomatischen Geheimschreiben den Vermerk „Ankara" oder „Türkei". „Uykusuz" folgt dem Ausspruch Erdogans ganz zu Beginn der Enthüllungen, man möge abwarten und schauen, was noch alles bei Wikileaks herauskommt und dann erst bewerten. Im Fall des türkischen Regierungschefs war es auch die vom früheren US-Botschafter Edelman notierte Behauptung, Erdogan habe acht Bankkonten in der Schweiz, was in der Tat einem Steinschlag gleichkommt. Auf Seite eins von „Uykusuz" steht: „Es ist zu Ende, mein Herr (gemeint ist das Herausschütteln aller Informationen bei Wikileaks). Sie können Ihre Erklärung machen!" Erdogan antwortet: „Hol mich hier raus, Mann!"

„LeMan" lässt wiederum Assange als frechen Bub passieren, der nichts als Peinlichkeiten über Erdogan, Staatspräsident Abdullah Gül, Außenminister Ahmet Davutoglu und Vizepremier Bülent Arinc ausplaudert: „Onkel Tayyip, Onkel Sam sagt, Sie sind ein Makler. Er sagt, Sie haben acht Konten auf Schweizer Banken...Onkel Gül, du streitest dich mit Onkel Tayyip, und Onkel Ahmet ist verrückt, sagt er...Onkel Bülent, Sie sind eine Bulldogge..." Onkel Sam versucht zu beruhigen: „Er ist nur ein Kind..."

Wenn aber ein US-Botschafter in Ankara aufschreibt, was er sich so denkt oder was er so gehört hat, dann dürfen wohl auch andere sich Gedanken machen. Zum Beispiel über Haydarpaşa, dem schlossartigen Bahnhof auf der asiatischen Seite Istanbuls, wo die Züge nach Ankara, Kars oder Adana abfahren - zwei Tage, zwei Nächte quer durch Anatolien. An einem Samstagnachmittag kam es kürzlich zum Brand auf dem Dach. Nach einer Stunde war er gelöscht, dann begannen die Theorien, die seither nicht mehr verstummen: Irgendwer möchte aus dem architektonischen Prachtstück doch ein Hotel oder eine Shopping Mall oder beides machen. Vielleicht hat die Stadtverwaltung ein bisschen nachgeholfen. Oder doch ein schludriger Handwerker?

Garantiert weniger Gehalt, aber noch mehr Sendezeit verwendete das Fernsehen auf eine ungeheuerliche Meldung, die das Boulevardblatt Hürriyet in die Welt gesetzt hat: Die deutsche Verwertungsgesellschaft Gema habe gegen das Abspielen der türkischen Nationalhymne auf einer türkischen Schule in Deutschland Einspruch erhoben. Stellt sich also die Frage, wem gehört der „Unabhängigkeitsmarsch"? Darüber diskutierten leidenschaftlich Juristen, Historiker, Kommentatoren, die die Gabe besitzen, alles kommentieren zu können. Die Antwort der Gema: Uns garantiert nicht.