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Hugo Chávez mit Cristina Fernández de Kirchner bei der Trauerfeier für den verstorbenen Néstor Kirchner.

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Die Begeisterung in der Regierung von Ecuador für den untergetauchten Wikileaks-Gründer Julian Assange währte nur kurz. "Wir sind bereit, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu geben – ohne Probleme, ohne Bedingungen", hatte der ecuadorianische Vizeaußenminister Kintto Lucas erklärt. Doch kurz darauf pfiff ihn Staatspräsident Rafael Correa zurück. Es habe an Assange keine formelle Einladung gegeben, sein Vizeminister habe ohne Autorisierung gehandelt, ließ sich Correa am 1. Dezember in der ecuadorianischen Zeitung "El Comercio" vernehmen. Wikileaks habe Gesetze gebrochen und damit "einen Fehler begangen".

Das kurze Zwischenspiel in Ecuador zeigt die Schwierigkeiten auf, die in Lateinamerika bei der Einschätzung des Veröffentlichungs-Tsunamis von 250.000 geheimen US-Dokumenten besteht, von denen viele die Staaten dieser Region betreffen. In Quito hatte man sich von Assange Auskunft darüber erhofft, was sich aus den Depeschen über Versuche der USA herauslesen lasse, linke Regierungen wie jene Venezuelas und seiner ALBA-Verbündeten Bolivien und Ecuador zu destabilisieren. Andererseits hat die Regierung des Iran, mit der die ALBA-Staaten beste Beziehungen pflegen, Assanges Enthüllungen als "Teil einer gut organisierten Verschwörung" verurteilt.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez enthielt sich vorerst einer Bewertung des Veröffentlichungsvorgangs und ging stattdessen die USA frontal an. Die US-Regierung habe erklärte Feinde und die eigenen Freunde gleichermaßen mit polemischen Attacken eingedeckt, es sei klar, dass sie nur eigenen Interessen folge: "Das Imperium ist nackt". Chávez empfahl US-Außenministerin Hillary Clinton den Rücktritt.

Mit dem nun bekannt gewordenen Inhalt der Venezuela betreffenden Depeschen, die hauptsächlich von der US-Botschaft in Caracas abgeschickt worden sind, wird Chávez wohl nicht unzufrieden sein. Viele der enthaltenen Informationen sind bekannt, und bei den neuen kommt Chávez nicht schlecht weg.

Mehrere "cables" befassen sich mit der Anwesenheit von Kubanern in Venezuela. Schätzungsweise befänden sich mehr als 40.000 kubanische Helfer im Land, darunter an die 30.000 Ärzte und Krankenpfleger, 1.400 Agrartechniker, 6000 Sporttrainer und bis zu 4000 weitere Experten, die als Lehrer, in der Industrie und in Kommunikationsberufen arbeiteten. In der venezolanischen Armee hätten die Kubaner weniger Einfluss, sonst sei der kubanische Geheimdienst überall präsent und überwache beispielsweise auch die Einwanderungsbehörde. Kubanische Geheimdienstler hätten ständigen direkten Zugang zu Chávez, es gebe sogar eine Rivalität der venezolanischen und der kubanischen Geheimdienstler um die Aufmerksamkeit des Präsidenten, heißt es in der Depesche Nr. 51158 vom 30. Jänner 2006.

Überraschend liest sich der Bericht über ein Gespräch, das ein US-Botschaftsmitarbeiter 2004 mit der ehemaligen Chávez-Vertrauten Herma Marksman führte. Chávez sei, anders als die Opposition glauben machen wolle, sicher kein Idiot, er wisse genau, was er wolle, sagte die Historikern, die von 1984-1993 Chávez’ Lebensgefährtin gewesen war und sich dann gegen ihn stellte. Mit seinen stundenlangen, volkstümlichen Auftritten im Fernsehen vermittle er den Armen den Eindruck, dass er an ihren Problemen interessiert sei. Der Präsident traue nur wenigen Menschen, am meisten noch seinem Bruder Adan und Fidel Castro, den er schon als Kind bewundert habe, heißt es in der Depesche 18574.

Als Bumerang für die USA stellt sich der Inhalt der Geheimdepesche 147378 dar, in der es um den Absturz des US-amerikanischen Ansehens in Venezuela geht. Vor der Chávez-Ära, die 1999 begann, hätten 65 Prozent der Venezolaner von den USA einen positiven Eindruck gehabt, jetzt sehen nur noch 31 Prozent die USA positiv, hieß es in der Depesche aus dem Jahr 2008. Die Botschaft empfahl der US-Regierung ein ganzes Bündel von Massnahmen zur Imagepflege. So wurde angeregt, bekannte, aus Venezuela stammende US-Baseballspieler in ihre alte Heimat zu schicken, damit sie dort Jugendliche im beliebtesten Mannschaftsport des Landes weiterbilden. (Hugo Chávez hatte laut Biographien in seiner Jugend die Absicht, Baseball-Profi zu werden – Anm. Erhard Stackl).

Oberpeinliches aus Argentinien

Weniger Freude dürfte Chávez mit den geheimen Botschaftsberichten aus Buenos Aires haben, die Wikileaks ebenfalls in die Hände gefallen sind. Dort ist ständig von den Bemühungen die Rede, die von Venezuela finanziell unterstützte Regierung der Linksperonisten auf die Seite der USA zu ziehen. Zu Zeiten von Präsident George W. Bush habe das sogar funktioniert, wird behauptet. So hätten Néstor Kirchner, der heuer verstorbene Ehemann und Amtsvorgänger von Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (in den Depeschen CFK genannt) und auch diese selbst beste Beziehungen zu Thomas Shannon gehabt, dem für Lateinamerika zuständigen damaligen Vizeaußenminister der USA. CFK habe zugestimmt, in Bolivien "mit der US-Regierung zu kooperieren", heißt es in einer von der Madrider Zeitung "El País" zitierten Depesche. Es sei darum gegangen, Boliviens linken Indio-Präsidenten Evo Morales davon zu überzeugen, dass die USA die territoriale Integrität Boliviens nicht antasten wollen (bekanntlich gab es im rohstoffreichen Osten und Südosten des Landes, dem sogenannten Halbmond, Abspaltungstendenzen). Außerdem sollte sich Argentinien in Bolivien, aber auch in Ecuador darum bemühen, die Regierungen auf einen mehr moderaten und demokratischen Kurs zu bringen.

Doch ausgerechnet mit dem Amtsantritt der neuen US-Regierung wurden die Beziehungen zu Buenos Aires sauer, und das, obwohl Cristina Fernández sowohl die Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten, wie auch die Bestellung Hillary Clintons zu dessen Außenministerin ausdrücklich begrüßt hatte.

Der Ärger begann bei einem Besuch des neuen Vizeaußenministers für Lateinamerika, Arturo Valenzuela, in Buenos Aires am 15. Dezember 2009, bei dem er öffentlich über die Beschwerden von US-Unternehmern sprach, die sich über ein "Fehlen der Rechtssicherheit" in Argentinien beklagten. Die argentinische Präsidentin reagiert zornig und beleidigt, was ihr den nachhaltigen Groll des US-Außenministeriums eintrug. In mehreren Depeschen wurde die US-Botschaft in Buenos Aires mit Fragen bombardiert, die jetzt in den argentinischen Medien für größte Aufregung sorgen. Unter der Überschrift "Mental state and health" werden in einer Depesche Fragen zum "Geistes- und Gesundheitszustand" der Präsidentin und ihres damals noch lebenden Ehemanns gestellt. "Wie kontrolliert Cristina Fernández de Kirchner ihre Nervosität?", heißt es da. Und: "Nimmt sie Medikamente?"

"Wie geht es Néstor Kirchner mit seiner Erkrankung des Magen- und Darmtrakts?", wurde nach dem Befinden des Ex-Präsidenten gefragt, der am 27. Oktober 2010 an einem Herzinfarkt starb.

Auch bei seiner Einschätzung des Zustandes von Cristina Kirchner sei das State Department falsch gelegen, meint die argentinische Zeitung "La Nación". Es sei ein alter "urbaner Mythos", dass die Präsidentin an einer "bipolaren Störung" leide, dass sie mit anderen Worten manisch-depressiv sei.

Als ob diese Enthüllungen, auf die Argentiniens Regierung bisher nicht regierte, nicht schon genug gewesen wären, setzte Wikileaks noch eines drauf. In weiteren Veröffentlichungen rechnen zwei frühere Kabinettschefs der Kirchner-Regierungen mit dem Politiker-Ehepaar ab. Sergio Massa soll bei einem Abendessen im Haus eines Bankers im November 2009 Néstor Kirchner als "Psychopathen" und "Monster" bezeichnet haben, der in der Politik eine "Rowdy-Mentalität" entwickelt. Massa habe sich in seiner Wut nicht einmal von der eigenen Ehefrau stoppen lassen, steht in der Depesche 235941. Die Präsidentin habe er damals als reine Befehlsempfängerin ihres Mannes bezeichnet; ohne ihn würde sie besser arbeiten. Argentinien werde jedenfalls kein zweites Venezuela werden, soll der ehemalige Spitzenfunktionär der Kirchners versichert haben. Das Land habe eine breite, gebildete Mittelschicht, die Wirtschaft sei "viel komplexer als die Erdöl-Monokultur in Caracas". Die Argentinier würden eine autokratische Regierung nicht zulassen.

Schlechte Noten von Bachelet

Zu diesen Enthüllungen argentinischer Provenienz, ein Fressen für die bürgerlichen, mit der Präsidentin schon länger im Krieg liegenden Medien, kam noch eine weitere aus dem Nachbarland Chile.  Die sozialistische Präsidentin Michele Bachelet, die auf etlichen Fotos gemeinsam mit Cristina Kirchner lachend zu sehen ist, soll sich bei einem Besuch des US-Emissärs Valenzuela kritisch über die Amtskollegin geäußert haben. Im Jänner 2010, an einem ihren letzten Tage im Amt, soll Bachelet (die nicht wörtlich zitiert wird) als Land mit schwachen Institutionen bezeichnet haben, dem eine robuste Demokratie fehle; die Präsidentin Kirchner sei schwankend. Ein bei dem Gespräch anwesender Berater Bachelets hat laut der chilenischen Zeitung "La Tercera" inzwischen dementiert, dass seine Chefin in dieser Weise über Argentinien gesprochen habe.

Fingerabdrücke vom Präsidenten

Geht es bei dieser Peinlichkeit um eine Ex-Präsidentin (und nunmehrige Leiterin der neuen Uno-Behörde für Frauenangelegenheiten), so muss sich in Paraguay der amtierende Präsident Fernando Lugo mit Enthüllungen aus dem Fundus von Wikileaks herumschlagen. Danach habe das State Department die US-Botschaft in Asunción während des paraguayischen Präsidentschaftswahlkampfes 2008 aufgefordert, Material über die vier wichtigsten Kandidaten, darunter auch Lugo, zu sammeln. Verlangt wurden sogar biometrische Daten wie Fingerabdrücke und Augenscans. Zusätzlich zu diesen doch eher verblüffenden Wünschen wurde nach dem Ausmass der Korruption im Land gefragt, nach dem Stand der Beziehungen zu Kuba und Venezuela, China, Taiwan und Russland sowie nach den Plänen für den Bau von Moscheen und mögliche Aktivitäten von Al-Kaida.

Laut Meldung der Fernsehstation Telesur hat Paraguays Außenminister Héctor Lacognata die US-Botschafterin Liliana Ayalde bereits vorgeladen und von ihr Aufklärung über dieses höchst befremdliche Vorgehen gefordert.

Neues vom Putsch in Honduras

An sich positiv kommt die US-Diplomatie in jenem Teil der nun bekannt gewordenen Geheimdokumente vor, in denen es um den Putsch in Honduras am 28. Juni 2009 geht. Bekanntlich war damals der gewählte Staatspräsident Manuel Zelaya abgesetzt, festgenommen und mit einem Flugzeug nach Costa Rica abgeschoben wurde. Durchgeführt hatte diese Aktion ein Bündnis aus Militärs und Politikern, die Zelaya Verfassungsbruch vorwarfen, weil er ein Referendum über eine weitere Amtszeit als Präsident angestrebt hatte. Die Putschisten erwarteten, besonders von den USA, dass ihre Handlungsweise als rechtmäßig anerkannt wird.

Doch US-Botschafter Hugo Llorens kabelte noch einen Monat nach dem Putsch "vertraulich" an seine Zentrale in Washington, dass "kein Zweifel besteht, dass sich das Militär, das Höchstgericht und der nationale Kongress zu einem illegalen und verfassungswidrigen Coup verschworen haben" (Dokument 09Tegucigalpa645). Es habe kein gesetzmäßiges Absetzungsverfahren gegeben und überdies hätten seit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1982 in Honduras schon mehrere Präsidenten die Ausweitung ihrer Amtszeit angestrebt, ohne dass sie "automatisch" als abgesetzt erklärt worden wären. Botschafter Llorens bezeichnete, ganz im Einklang mit fast allen Regierungen Lateinamerikas und zunächst auch der EU, die von den Putschisten dem Land aufgezwungene Nachfolgelösung als "völlig illegitim". Doch wenige Monate später protestierten nur noch Venezuela, Brasilien, Argentinien und einige weitere lateinamerikanische und karibische Staaten. Der gestürzte Präsident Zelaya lebt nun im Exil in der Dominikanischen Republik. In Honduras wurde, in einer Phase heftiger politischer Zusammenstöße, im November 2009 der konservative Politiker Porfirio Lobo zum neuen Präsidenten gewählt, was von den USA und leider auch von der EU hingenommen wurde.