Wien - Am Anfang steht die Verunsicherung. Regisseurin Barbara Schulte sorgt bei ihrer Inszenierung von Torsten Buchsteiners Drama Nordost zunächst dafür, dass sich Darstellerinnen und Publikum auf Augenhöhe treffen. So stehen die Zuseher die erste halbe Stunde, Sektglas in der Hand, auf der Spielfläche, die drei Schauspielerinnen unter ihnen. Später, nachdem die Sitzplätze freigegeben und besiedelt worden sind, dringen die Aktricen immer wieder in den Zuschauerbereich vor, stellen so Grenzen und Beziehungen infrage.
Dabei mutet der Inhalt des Stücks zunächst gar nicht so philosophisch an. Buchsteiner verschränkt die Monologe dreier Frauen: Zura (Karin Yoko Jochum) ist eine jener sogenannten schwarzen Witwen, die am 23. Oktober 2002 das Dubrowka-Theater in Moskau stürmten, um den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien zu erzwingen. Bei einer der 850 Geiseln handelt es sich um Olga (Barbara Gassner), die, mit Mann und Kind im Theater, die Besetzung zunächst als Teil des Musicals Nord-Ost wahrnimmt. Die Notärztin Tamara (Monika Bujinski) sieht sich hingegen zunächst nur als einsatzbereite Beobachterin, ehe ihr ein Anruf ihrer Tochter aus dem Inneren des Theaters klarmacht, wie sehr auch sie in die Geschehnisse verwickelt ist.
Ausführlich breiten die beschwipste Tamara, die durch ihre Kriegserfahrungen bitter-sarkastische Zura und die beherrschte Olga ihr Vorleben und die Erlebnisse jener entscheidenden Nacht vor dem Publikum aus. Auffällig ist dabei die Distanz, mit der sie den Ereignissen gegenüberstehen. Diese Kühle - verbunden mit der merklich um Rhythmus bemühten Inszenierung - überträgt sich auch auf den Zuseher. Großes Mitfühlen ist hier kaum möglich, vielmehr werden hier im kalten Licht des nackten Saals (Bühne: Andreas Braito) drei Schicksale seziert.
Theater im Theater
Erst allmählich erschließt sich indessen, dass hinter dem Regiekonzept der Grenzverschiebungen mehr steckt als eine Theater-im-Theater-Spiegelung. Es geht um die Identitäten der drei Frauen, die sich im Lauf des Abends zunehmend verschränken.
Als den Geiselnehmern das Scheitern ihrer Aktion bewusst wird, tauscht Zura ihren Tschador mit dem Kleid einer toten Theaterbesucherin, um nicht als Terroristin erschossen zu werden. Olga hingegen, die an diesem Abend zur Witwe wird, kann mit einem Mal nachvollziehen, was Menschen dazu bringen kann, sich einen Sprengstoffgürtel umzuschnallen. Leider wirkt das alles gelegentlich etwas forciert, sodass man am Ende mehr von einem interessanten als einem packenden Abend sprechen muss. (Dorian Waller, DER STANDARD - Printausgabe, 2. Dezember 2010)