"Worte", schrieb Ludwig Wittgenstein, "gewinnen im Gebrauch ihre Bedeutung." Der Philosoph war der Namensgeber des großen österreichischen Preises für Spitzenforschung. Für Ruth Wodak, die ihn als Erste 1996 gewann, ist der Satz maßgeblich, sie zitiert ihn, wenn sie ihre Arbeit charakterisiert.
So auch am Montag in Wien, als sie einen Vortrag über "Einheit in der Vielfalt", die Herausforderung der mehrsprachigen Europäischen Union hielt. Wodak ist Soziolinguistin mit Professuren an den Universitäten Wien und Lancaster, bekannt geworden vor allem durch ihre kritischen Diskursanalysen.
Identität wird unter anderem über Sprache konstruiert, und die Identität Europas, so die Sprachwissenschafterin ergänzend, ergibt sich aus dem Spannungsfeld zwischen Mehrsprachigkeit und Kommunikationseffizienz - die einander nicht unbedingt ergänzen. Das Nebeneinander vieler Regionen ergibt ein modernes Babel (so der Historiker Timothy Garton Ash; siehe auch die Illustration), und es stellt sich die politische und soziale Frage, wie Europa auf dem Weg zu einer wissensbasierten modernen Union damit umgeht.
Antworten findet Wodak nicht in einer allumfassenden Theorie, vielmehr indem sie die jeweiligen Funktionen und Bedingungen von Kommunikation untersucht und - auf der Basis der Menschenrechts-Charta - einen Kompromiss zwischen Effizienz und Anerkennung kultureller Minderheiten empfiehlt.
In ihrer von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem Medienhaus Wien und der Telekom Austria Group veranstalteten "Lamarr Lecture" bleibt sie skeptisch gegenüber Englisch als propagierter Lingua franca Europas: Nicht einmal die Hälfte der EU-Bewohner sprechen es als eigene oder Fremdsprache. Vor allem im Wissenschaftsdiskurs herrsche Englisch zwar vor, doch im Alltag gebe es andere Prioritäten.
So könnte das Erlernen benachbarter Sprachen gefördert werden, schon allein als Maßnahmen gegen angestrebte Renationalisierungen, von den kulturellen Effekten an Grenzen ganz zu schweigen.
Widersprüchliche Tendenzen
In der Wirtschaft gilt Mehrsprachigkeit generell als Vorteil, durch mangelnde Kenntnisse verursachte Verluste werden mit 100 Milliarden Euro jährlich beziffert (wobei die Zahl allerdings auf Angaben von Unternehmern beruht).
All das, sollte man glauben, spricht klar für verstärkten Fremdsprachenunterricht. Doch Wodak konstatiert auch gegenteilige Entwicklungen - in Großbritannien geht die entsprechende Ausbildung zurück, und seit einem Jahr gibt es kein eigenes Ressort für Mehrsprachigkeit mehr in der EU-Kommission.
Angesichts solcher widersprüchlicher Tendenzen hofft Wodak auf die Einsicht der Beteiligten: "Es sollte darauf ankommen zu lernen, wann man wo wie mit wem spricht. Verschiedenheit zu respektieren ist wichtig, ebenso aber das Gelingen von Kommunikation in vielen Situationen." (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 01.12.2010)