"Im Prinzip war auch bisher klar, dass sozusagen zwischen den Persern und den Arabern eine Distance herrscht, die auch nicht durch gemeinsames Sunniten- oder Schiitentum überbrückt werden kann. Das ist hier sichtbar geworden. Die fürchten iranische Dominanz und die Alternative einer Blockierung dieser Dominanz kann uns nicht sympathisch sein. Denn das würde heißen, dass zumindest Saudi-Arabien und Ägypten und vielleicht auch Syrien versuchen Atommächte zu werden. Und dann 'Gute Nacht'."

Foto: Humboldt-Universität

Der Berliner Politologe Herfried Münkler hält die aktuellen Wikileaks-Veröffentlichungen hinsichtlich seiner Informationen zum Nahen Osten für besonders brisant. Jetzt, da die Weltöffentlichkeit wüsste, was die Akteure vor Ort übereinander denken, würden diese unter Handlungsdruck kommen. Das könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass Länder wie Saudi-Arabien oder Ägypten ebenfalls nach Atomwaffen streben.

Dem Wikileaks-Gründer Julian Assange wirft Münkler vor, bewusst parteiisch gegen die USA zu agieren. Die Handlungsfähigkeit der Weltmacht sei durch die Veröffentlichungen politisch schwer getroffen und die Fähigkeit der USA, vertrauliche Informationen zu bekommen, seien dramatisch zurückgegangen. Münkler warnt außerdem vor "dummem Transparenzgerede". Die Veröffentlichung würden einer Werthaltung, die im Prinzip auf politische Kontrolle und weitmögliche Transparenz setzt, mehr schaden als nützen.

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derStandard.at: In einem Kommentar zu den Wikileaks-Veröffentlichungen im August schreiben Sie, Assange sei mit dem Anspruch angetreten, für eine neue Qualität von Politik zu sorgen. Doch faktisch sei das Enthüllungsportal ein Spielball im Kampf zwischen dem Westen und den Taliban. Wie meinen Sie das?

Münkler: Es gibt ja gewissenmaßen eine Transparenz-Euphorie, die sich in der Gesellschaftstheorie durchgesetzt hat. Nachzulesen zum Beispiel bei Habermas. Die Dialektik des Öffentlichen und des Geheimen wird hier nicht mehr ins Auge gefasst. Anders gesagt: Wenn wir mit allem an Wissen zugemüllt werden, dann heißt das nicht, dass wir alles wissen, sondern dass nur andere Filterinstanzen benutzt werden. Es bleibt relativ viel verborgen, gewissenmaßen unter dem Müll des in die Öffentlichkeit Gekehrten. Das war eine Überlegung. Die andere war, dass das Bekanntmachen dieser Dinge im Ergebnis die Taliban begünstigen, weil sie sich dem Transparenzgebot nie unterworfen haben, sondern das Prinzip des Geheimen aufrechterhalten. Kurzum: Was Assange nicht begriffen hat, ist, dass er so oder so ein Spieler im Prozess der Parteinahme wird.

derStandard.at: Wie bewerten Sie die aktuellen Veröffentlichungen?

Münkler: Was diesmal über Deutschland bekannt wurde, sind Plattitüden. Ansonsten ist es eine Form der Desavouierung des amerikanischen Botschafters, der nun eigentlich nur mehr abgelöst werden kann. Mit ihm wird niemand mehr ein vertrauliches Gespräch führen, auch wenn jetzt viele das Gegenteil beteuern. Der ist verbrannt und mit ihm viele amerikanische Botschafter. Das macht soweit nichts. Aber vermutlich sind die Informationen diesmal teilweise viel brisanter als die zu Irak und Afghanistan, weil sie im Prinzip eine Reihe von Akteueren desavouieren. Darüber bringen sie etwas ins Schleudern, was möglicherweise großen Unfrieden stiften kann und möglicherweise zu Präventivaktionen führt. Das kann man jetzt zwar noch nicht sagen, aber möglicherweise ist diese Region der Welt durch die Veröffentlichungen unsicherer geworden.

derStandard.at: Was heißt das genau? Was erwarten Sie?

Münkler: Was ich da zu erwarten habe, weiß ich nicht so recht. Es ist sicherlich so, dass die Akteure im Nahen Osten jetzt nicht wirklich genauer wissen, was sie übereinander denken. Das Problem ist, dass die Weltöffentlichkeit jetzt weiß, was sie übereinander denken. Dadurch geraten sie unter Handlungsdruck. Vor allem was die Äußerungen gegenüber dem Iran betrifft. Im Prinzip war auch bisher klar, dass sozusagen zwischen den Persern und den Arabern eine Distance herrscht, die auch nicht durch gemeinsames Sunniten- oder Schiitentum überbrückt werden kann. Das ist hier sichtbar geworden. Die fürchten iranische Dominanz und die Alternative einer Blockierung dieser Dominanz kann uns nicht sympathisch sein. Denn das würde heißen, dass zumindest Saudi-Arabien und Ägypten und vielleicht auch Syrien versuchen, Atommächte zu werden. Und dann 'Gute Nacht'.

derStandard.at: US-Außenministerin Hillary Clinton sieht schon das Ende der US-Diplomatie, der italienische Außenminister Frattini sieht die Veröffentlichungen als 11. September für die Weltdiplomatie. Inwiefern schadet vor allem die aktuelle Veröffentlichung der Handlungsfähigkeit der Politik bzw. der Diplomatie?

Münkler: Zunächst einmal: die USA wurde furchtbar getroffen und die Fähigkeit der USA, vertrauliche Informationen zu bekommen, sind dramatisch zurückgegangen. Kurzum: die Handlungsfähigkeit der Weltmacht ist politisch schwer getroffen. Da muss man sagen: auch da hat Wikileaks ja Partei genommen, insofern es ja nicht chinesische oder andere Einschätzungen veröffentlicht hat, sondern amerikanische. Man könnte sagen: der Australier Assange ist ohne es zu wollen zu einem Trittbrettfahrer chinesischer Interessen geworden. Das kommt davon, wenn man nicht politisch denkt, sondern dieses dumme Transparenzgerede glaubt. Zunächst einmal lässt sich so etwas natürlich auch wieder reparieren. Man muss vertrauliche Einschätzungen in ganz anderer Weise vertraulich halten, möglicherweise auch nur auf Papier ablagern und die Zugänglichkeit wieder besser kontrollieren. Da ist in den USA offenbar sehr leichtfertig agiert worden. Natürlich mit dem Hintergrund, nach 9/11 die Kommunikation in der Administration zu erhöhen. Aber auch das war sozusagen eine "Schnapsidee". Denn wenn so viele Leute auf so viele Informationen Zugriff haben, führt das nicht zu einer Erhöhung der strategischen Handlungsfähigkeit, sondern nur dazu, dass die Netze mit Müll verstopft werden.

derStandard.at: Hat Wikileaks diesmal "verantwortlicher" agiert, indem es die Interpretation der Informationen den Redaktionen überließ?

Münkler: Das, was man in der ursprünglichen Konzeption von Wikileaks selbst machen wollte, hat Assange diesmal aus Kostengründen ausgelagert. Was auch eine Reaktion auf den Zerfall seiner Organisation ist, wo sich ja heftige Diskussionen um die Fragen drehen, wie das gehandhabt werden soll. Wer sichtet oder prüft die Informationen?

derStandard.at: Sie zitieren gerne Kant mit dem Satz: „Alles was man sagt, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, muss man sagen." Wo liegt die Grenze zwischen notwendiger Geheimhaltung und nötiger Information?

Münkler: Das ist eine Grenze, die im Prinzip jeder Journalist vor sich und seinem Gewissen zu ziehen hat und im anderen Fall durch das Banale gezogen wird. Es mag ja sein, dass an Merkel alles abperlt wie auf Teflon, aber das ist eine banale Sache. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob ich einer Werthaltung, die ich grundsätzlich teile, mehr schade oder nütze. Und man kann ja sagen, dass diese Veröffentlichung einer Werthaltung, die im Prinzip auf politische Kontrolle und weitmögliche Transparenz setzt, mehr schaden, als sie ihr nützten. Und zwar insofern, als dass sie den Regimen, die grundsätzlich alles geheim halten oder jeden Verräter gleich an die Wand stellen, eine wunderbare Bestätigung dafür bringen, wie recht sie doch haben. (derStandard.at, 30.11.2010)