Neue Wiener Medea: Claudia Barainsky.

Foto: Staatsoper

Wien - An der Staatsoper war sie bislang ein unbeschriebenes Blatt. Hörern neuer(er) Musik allerdings ist Claudia Barainsky schon lange ein Begriff - auch in Wien. Bereits vor Jahren hinterließ sie bei Klangforum-Konzerten nachhaltigen Eindruck, ebenso beim Webern-Fest der Festwochen, bei dem sie einen guten Teil des Vokalwerks übernahm.

Stets ließ sie dabei durch ein Bündel seltener Qualitäten aufhorchen, selten in dieser Kombination: eine klar fokussierte, präzise geführte Stimme, die zugleich über Durchschlagskraft verfügt, individuelle Färbung auch bei vibratolosen Tönen, dazu eine ebenso deutliche wie natürliche Diktion.

Längst hat sich die Sopranistin neben den Konzerthäusern auch große Opernbühnen erobert. An die Staatsoper wäre sie allerdings - zumindest jetzt - nicht gekommen, hätte nicht die Darstellerin der Titelpartie in Reimanns Medea absagen müssen. Neuland betritt sie nicht. Im Herbst hat Barainsky in Frankfurt die Medea in Marco Arturo Marellis Wiener Uraufführungsinszenierung verkörpert; die FAZ etwa überhäufte sie mit Lob. "Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, die schiere physische Kraft des Aufgehens in der Figur, ihre überwältigende Bühnenpräsenz oder die kaum glaubliche musikalische Gestaltung ihres mit schwierig, widerborstig, stratosphärisch unzureichend gekennzeichneten Gesangsparts." Reimanns Beitrag zu solchen Erfolgen dürfte nicht klein sein.

Neben dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau war der deutsche Komponist einer ihrer Lehrer; mit der Titelpartie in seiner Melusine debütierte sie an der Oper Dresden. Auch in der Münchener Uraufführung von Bernarda Albas Haus war die Berlinerin dabei. Dennoch - Medea bedeutet für Barainsky eine Herausforderung. "Ich habe noch nie so eine lange Partie gesungen. Reimann selber hat sie mit der Elektra verglichen. Und sie ist wirklich wie eine gefühlte Elektra." Weitere Schwierigkeiten liegen weniger im Gepräge der Gesangslinien ("Reimann schreibt technisch das, was ich kann, diese akrobatischen Dinge"), sondern eher in der Komplexität der Partitur.

"Bei einer solchen Partie steckt viel Arbeit drin, nicht nur wegen des Umfangs. Es ist so ein Schwebestück mit einem gefühlten off-beat, einen Einsatz auf der Eins im Takt hat man fast nie. Kein Takt gleicht dem anderen. Es gibt zwar Erkennungssignale im Orchester, aber vor jeder Vorstellung muss ich mich aufs Neue intensiv mit der Partie auseinandersetzen."

Besonders fasziniert zeigt sie sich vom Epilog der Oper, in der Medea nach der bluterfüllten Katastrophe wie gelöst erscheint: "Jeder zerfleischt sich, alle sind am Ende, und dann gibt es dieses grandiose Schlussbild, in dem Reimann die Musik zurückführt in ganz einfache Linien. Das würde nicht so stark wirken, wenn nicht vorher diese Eruptionen wären. Das Publikum in Frankfurt hat angefangen zu weinen."

Ihre Vielseitigkeit hat Barainsky mit Partien von Mozart, Puccini, Strauss, Wagner oder Berg untermauert. Die größten Meriten erntete sie aber mit Zeitgenössischem. Für die Marie in Zimmermanns Soldaten erhielt sie etwa den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Wenn man sie auf ihren Schwerpunkt "Moderne" anspricht, relativiert sie etwas. "Wie sich ein Repertoire entwickelt, ist oft Zufall. Neue Musik wird immer so anders bewertet. Aber man kann sie nur verstehen, wenn man ein Fundament aus der Tradition mitbringt. Man muss auch Neue Musik schön singen, und das kann man nur, wenn man auch in anderen Jahrhunderten zuhause ist. Zudem: Ich hätte wohl die Lust am Singen verloren, wenn ich nur Neues machte." (Daniel Ender, DER STANDARD - Printausgabe, 30. November 2010)