Eine Frau, die sich vor der sie umgebenden, doppeldeutigen Kälte alsbald gänzlich in ihren Pullover zurückziehen wird: Monika Klengel in "Verschwinden", Theater im Bahnhof.

 

Foto: Theater im Bahnhof, Johannes Gellner

Graz - Was tun in einer sozial abgekühlten Welt, in der der Staat in erster Linie Banken stützt und daraufhin ein neues, zweifellos notwendiges Sparprogramm initiiert? Man kann sich - zumindest am Theater - einmal einen warmen Pullover überziehen, einen Wodka trinken oder sich gleich auf den Mond schießen lassen.

Für Letzteres betritt man über eine Rampe den Ziegelschacht eines Industrieofens im Hinterhof des Grazer Theater im Bahnhof und sieht einen Trailer zu einem nie gedrehten Film, in dem Vorbereitungen zu einer Mondreise getroffen werden. Was sagt uns das? Dieser Trailer, Lunochod 4, ersetzt aus Spargründen unerfreulicherweise das eigentliche Produkt, das man gerne sehen würde. Andererseits rückt er die völlig überzogene, aber umso massivere Vorstellung einer Ausflucht ins Zentrum.

Warmanziehen, so der Titel dieser aus insgesamt siebzehn Spielstationen gebündelten Ensembleproduktion des Theaters im Bahnhof (TiB), ist eine Lange Nacht zur Abwehrsteigerung, die sechsmal während der gesamten Adventzeit zu sehen ist. Die Gruppe lockert dabei die Genregrenzen, sprich: hat (Künstler-)Freunde eingeladen, die aus unterschiedlichen Sparten Arbeiten zum Thema beisteuern. Ein Zeitplan hilft bei der Orientierung durch den sechsstündigen Abend.

Wie sehr kann der einzelne Bürger seine wunden Stellen vor Staat und Gesellschaft überhaupt schützen, wie verbirgt man Angriffsflächen? Indem man zusammenhält. Und das TiB positioniert Formen der Solidarität, z. B. mit einem partizipativen Hörbuch von Erich Maria Remarques Roman Drei Kameraden, welches Grazer und Grazerinnen im gemeinsamen Lesen erstellen. Der Roman handelt von einer nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Generation und deren dem Überleben geschuldeter Zusammenhalt. Das Hörbuch liegt beim TV-Kaminfeuer in der Bar auf.

Das Empfinden von warmer und kalter Temperatur gilt hier in sämtlichen für das Spiel geöffneten Funktionsräumen des Theaters als Parameter für soziale Behaglichkeit oder Kälte. Das Publikum erfährt am eigenen Leib, wie eisig den Hauptfiguren in Doktor Schiwago der Bürgerkrieg (und der viele Schnee) um die Ohren braust, indem es im unbeheizten Lager unter Wolldecken schlüpft und zum gemeinsamen Vorlesen zusammenkommt.

Märchen im Stehkino

Weitere Projekte: Um das Märchen von der Kälte adäquat erzählen zu können, wird das Format des Stehkinos genützt, das hinter einem Plastikvorhang im Hof auf seine jeweils drei Besucher wartet: Im dreiminütigen Animationsfilm von Heike Barnard, Johanna Moder und Karin Hammer zieht eine Prinzessin aus wackeligen Bleistiftstrichen aus, um einen Prinzen aus dem Ofen zu befreien. Eine anstrengende und bravouröse Tat, deren Erfolg aufmuntert.

Lieder zum Anwärmen singt der lebende Wurlitzer (Lorenz Kabas) für zehn Cent: Hier springt der Mensch ein, wenn die Maschine (der CD-Player) eine Pause benötigt. 128 Titel sind verfügbar.

Mit welcher Wärme einem fondsgebundene Ansparmöglichkeiten ans Herz gelegt werden, das führt Johannes Schrettle in seiner Bankberater-Groteske Es wird Blut fließen aus. Die Uraufführung spürt vielfältig Luhmanns Diktum des Vertrauens nach (Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität).

Das schönste Bild des Abends erzeugt Monika Klengel in ihrer Pullover-Performance Verschwinden: Eine Frau, die in ihrem Rolli gänzlich verschwindet, weil sie sich vor der doppeldeutigen Kälte in sich zurückzieht und dort, im Hohlraum zwischen Oberkörper und angezogenen Knien, mit Piccoloflasche und Musik aus dem Smartphone allein Party feiert. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD/Printausgabe 29.11.2010