Berlin/Hannover - Ein ungewöhnlich gehäuftes Auftreten von Leukämie- und Krebsfällen im Umkreis des maroden Atommülllagers Asse im deutschen Bundesland Niedersachsen hat Behörden und Kritiker in Aufruhr versetzt. Es sei zu keinem Zeitpunkt messbare Radioaktivität aus dem ehemaligen Salzbergwerk ausgetreten, bekräftigte das niedersächsische Umweltministerium am Freitag in Hannover. Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW sah sich in ihren Warnungen bestätigt.

Das am Donnerstag bekanntgewordene amtliche niedersächsische Krebsregister weist für die Region um die Asse bei Wolfenbüttel nach Angaben des Gesundheits- und Sozialministeriums in Hannover eine Verdopplung der Leukämieerkrankungsrate bei Männern auf. Dort wurden für die Jahre 2002 bis 2009 zwölf Fälle gezählt, obwohl statistisch nur 5,2 Fälle zu erwarten gewesen wären. Bei Frauen gibt es den Angaben zufolge lediglich eine "nicht signifikante Erhöhung". Allerdings sei dafür die Erkrankungsrate für Schilddrüsenkrebs bei Frauen verdreifacht.

Ursache unklar

Die Ursache für die Häufung von bestimmten Krebsfällen nahe der Asse ist bisher unklar. Nach Angaben des Gesundheits- und Sozialministeriums erfasst das Register nur anonymisierte Fälle. Über die Hintergründe der Erkrankungen, sei nichts bekannt, sagte ein Sprecher. Das werde jetzt weiter untersucht.

Das für die Überwachung des Lagers zuständige Umweltministerium in Hannover betonte, die Asse-Umgebung werde seit 1966 überwacht. Es habe bisher keinen "messbaren Eintrag von radioaktiven Stoffen" in die Umwelt gegeben. Das BfS, das das Atommülllager seit 2009 betreibt, betonte, dass von der Anlage laut Messungen derzeit keinerlei Gefahr für Mitarbeiter und Bevölkerung ausgehe.

In dem mittlerweile maroden ehemaligen Salzbergwerk waren zwischen 1967 und 1978 rund 126.000 Fässer mit schwach- und mittelaktivem Atommüll eingelagert worden. Das BfS plant wegen Wassereinbrüchen und Einsturzgefahr, das Lager zu räumen.

Atomkritische Ärzteorganisation sieht sich bestätigt

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW wertete die Häufung der Krebsfälle als Bestätigung für die von Atomanlagen ausgehenden Gefahren. Die Ergebnisse seien "ein weiterer Beleg für den ursächlichen Zusammenhang von ionisierender Strahlung und einem erhöhten Krebs- und Leukämierisiko", erklärte IPPNW am Freitag in Berlin.

Die Organisation erinnerte an die Ergebnisse einer 2007 vorgestellten Studie im Auftrag des BfS, die für Kleinkinder im Umkreis von Atomkraftwerken ein erhöhtes Krebs- und Leukämierisiko zeigte. Die Bundesregierung müsse endlich die Berechnungsbasis für die Strahlenschutzverordnung anpassen, erklärte sie.

Nach Angaben des BfS ist nach derzeitigem wissenschaftlichen Kenntnissstand auszuschließen, dass Atomkraftwerke im Normalbetrieb Radioaktivität freisetzen und Krebserkrankungen auslösen. Zu diesem Schluss kamen auch Experten, die bis 2003 im Rahmen einer offiziellen Untersuchung eine Häufung von Krebsfällen bei Kindern nahe des Reaktors Krümmel an der Elbe in den 1980er und 1990er Jahren untersuchten.

SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte für die Asse-Umgebung ein breit angelegtes Untersuchungsprogramm. In der "Braunschweiger Zeitung" (Samstagsausgabe) sprach der frühere deutsche Umweltminister, in dessen Wahlkreis die Region liegt, von "besorgniserregenden Ergebnissen". Auch er betonte, ein Zusammenhang zwischen Nuklearanlagen und Krebsfällen sei bisher nicht bewiesen. (APA/AFP)