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33,3 Millionen Menschen leben mit dem HIV- Virus, 2,5 Millionen davon Kinder. An Aids starben 2009 1,8 Millionen.

Foto: APA/Rolex Dela Pena

33,3 Millionen Infizierte, mehr als 25 Millionen Tote: 29 Jahre nach seiner Entdeckung ist HIV und die von ihm ausgelöste Immunschwäche Aids noch immer eine der gefährlichsten globalen Seuchen. Ihre Wurzeln liegen wahrscheinlich im afrikanischen Dschungel. Der Mensch war ursprünglich nur ein Fehlwirt für das Virus. HIV stammt ursprünglich von Affenviren der Sorte SIV ab. Den bisherigen Erkenntnissen nach ist ein Subtyp namens SIVcpzPtt der direkte Vorläufer von HIV-1, der tödlichsten Variante. Dieser Subtyp wurde bei Schimpansen im Regenwald Kameruns gefunden. Vermutlich hat sich ein Jäger beim Zerlegen eines solchen Tieres geschnitten und wurde so über Affenblut infiziert. Der Beginn einer furchterregenden Pandemie.

Die besonders heimtückische Wirkung der HI-Viren beruht auf deren Eigenschaft, sich in T-Zellen des Typs CD4+ zu vermehren. Sie dringen in diese ein und zwingen den zelleigenen Mechanismus dazu, neue Virenpartikel zu produzieren. CD4+Lymphozyten spielen jedoch für das Funktionieren des menschlichen Immunsystems eine entscheidende Rolle. Ist ihre Konzentration zu gering, sind anderen Mikroorganismen Tür und Tor geöffnet. Der Körper kann sich kaum noch gegen Bakterien, Pilze und andere Viren wehren, Aids ist die Folge.

Ein weiteres Problem: HIV mutiert auffallend schnell. Die Erreger unterliegen einem rapiden Evolutionsprozess, der ständig neue sogenannte Pseudospezies hervorbringt. Ihre Hüllen ändern sich, was die Entwicklung eines regulären, auf Antikörperbildung basierenden Impfstoffes besonders behindert. "Es ist kein einfacher Virus", sagt der Genetiker Paul de Bakker von der Harvard Medical School und der Universität Utrecht im Gespräch mit dem Standard. "Je mehr man darüber lernt, desto beeindruckender ist es."

Das Immunsystem ist den trickreichen Invasoren allerdings nicht immer chancenlos ausgeliefert. Bei manchen Infizierten passiert etwas Seltsames: Den Antikörpertests nach sind sie zweifellos HIV-positiv, doch das Virus selbst lässt sich in ihrem Blut mit den üblichen klinischen Methoden nicht nachweisen. Und sie leiden nicht unter merklichem T-Zellen-Verlust. Dementsprechend treten auch keine Aids-Symptome auf. Die Menschen sind gesund. Fachleute bezeichnen solche Patienten als "HIV-Controller". Sie haben den Feind unter Kontrolle. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der von HIV Betroffenen liegt deutlich unter einem Prozent.

Es sind Glücksfälle, nicht nur was die Menschen selbst betrifft, von denen manche schon seit mehr als 25 Jahren mit der Infektion leben, ohne spezielle medikamentöse Behandlung zu brauchen und ohne an Aids zu erkranken, sondern auch für die Forschung. Viele Experten sind der Meinung, "Controllers" könnten den Schlüs-sel zum wichtigsten Geheimnis der Viren in sich tragen, nämlich wie diese dem Immunsystem entgehen.

Ein Team aus mehr als 200 Wissenschaftern, darunter auch Paul de Bakker, hat Anfang des Monats die bislang umfassendste Studie über "HIV-Controller" vorgelegt (vgl. Science Express, 4. 11. 2010). Die Forscher analysierten das Erbgut von 974 solcher Spezialfälle und von 2648 normaler HIV/Aids-Patienten. Die Vergleiche der beiden Gruppen zeigten bemerkenswerte Unterschiede. Man fand mehr als 300 verschiedene einzelne Basenpositionen, die bei Controllern häufig anders sind als bei denjenigen, die dem Virus ausgeliefert sind. Interessanterweise befinden sich alle diese Positionen in einem einzigen Gen-Bereich: dem Haupt-Histokompatibilitätskomplex (MHC) auf dem kurzen Arm des Chromosoms Nummer 6. Es ist eine unübersichtliche Region mit ungefähr vier Millionen Basenpaaren und hunderten Einzelgenen, erklärt Paul de Bakker. "Ein kleiner Dschungel im Genom." Nicht einfach, das Wesentliche zu finden. Die Experten gaben nicht auf und wurden fündig. Es gibt offenbar einen einzigen genetischen Teilcode, der für die Controller mit Abstand am wichtigsten ist. Er betrifft den Aufbau des Proteins HLA-B, ändert eine Aminosäure, Nummer 97, in dessen Kettenstruktur. Und diese entscheidet anscheinend über Leben und Tod.

Nachhaltige Abwehr

HLA-B und andere HLA-Proteine sind für das Immunsystem von zentraler Bedeutung. Wenn eine Zelle von einem Virus infiltriert wird, zwingt dieser sein Opfer dazu, fremdartige Eiweißstoffe zu bilden. Die Zellen verfügen allerdings über eine interne Alarmanlage. Ihre HLA-Proteine nehmen einige der fremden Moleküle auf und transportieren sie zur Zelloberfläche. Dort dienen sie unter anderem sogenannten CD8+-Killerzellen als Warnsignal. Diese reagieren gnadenlos. Sie greifen die von Viren gekaperte Zelle umgehend an und zerstören sie, noch bevor die nächste Kohorte Krankheitserreger freikommen kann. Rabiat, aber wirkungsvoll.

Die Bekämpfungstaktik sollte eigentlich auch bei von HIV befallenen CD4+ T-Zellen funktionieren, aber anscheinend tut sie das nicht - außer vermutlich bei den "Controllern". Ihre HLA-B-Proteine tragen eine abweichende Aminosäure, genau dort, wo die Fremdmoleküle angeheftet werden sollten. Mit anderen Worten: Dieser eine Strukturunterschied könnte ausreichen, um eine wirksame Immunreaktion gegen HIV auszulösen.

Die neue Entdeckung ist zwar ein wissenschaftlicher Durchbruch, doch sie hat keinen unmittelbaren therapeutischen Nutzen. Es geht da um einen körpereigenen, genetisch festgelegten Mechanismus, erklärt Steven Deeks von der University of California in San Francisco, ebenfalls Ko-Autor der Studie. "Die Gene der Menschen lassen sich nicht ändern", betont er. Was allerdings möglich scheint, ist die Entwicklung eines Impfstoffes, welcher die Killerzellen bei der Erkennung von HIV-infizierten CD4+-Lymphozyten unterstützt. "Dieses Ergebnis macht sehr deutlich, auf welchen Teil des CD8+-Repertoires wir uns konzentrieren müssen." Ein solches Vakzin würde zwar nicht die Infektion mit dem Virus unterbinden, aber seine Vermehrung unter Kontrolle halten, so Deeks. Und das wäre ein enormer Erfolg.

Paul de Bakker pflichtet ihm bei. "Es braucht einen ganz anderen Ansatz", sagt er mit Blick auf die heutige Forschungsstrategie gegen HIV und Aids. Man müsse verstehen, wie das Virus ins Immunsystem eingreift und umgekehrt, denn das würde neben Medikamenten zur direkten Virusbekämpfung neue Perspektiven eröffnen.

Ein Immunantwort-unterstützendes Vakzin hätte mehrere Vorteile, darunter auch eine vorbeugende Wirkung. "Wenn man als Patient HIV unter Kontrolle hat, dann ist man kein Risikofaktor mehr für andere", sagt de Bakker. Die Virenkonzentration im Blut ist einfach zu gering für eine effiziente Übertragung. Die Entwicklung eines dementsprechenden Impfstoffes dürfte aber noch viele Jahre dauern. "Die Menschen erwarten Wunder, aber die gibt es natürlich nicht." (Kurt de Swaaf, DER STANDARD Printausgabe, 29.11.2010)