Ein Kosmos des Absurden - Ausstellungseinsicht (von links nach rechts): "L'optique moderne" (1961/62), "Die Geschworenen" (1983), "Le lit de Camp de Koepcke" (1961).

 

Foto: M. Horvath

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Daniel Spoerri feierte heuer seinen 80. Geburtstag.

Spoerri wurde 1930 als Daniel Isaac Feinstein in Rumänien geboren. Die Nationalsozialisten ermordeten seinen Vater, einen vom jüdischen zum evangelischen Glauben konvertierten Pfarrer. Mit der Mutter floh er in die Schweiz. Er ist Gründungsmitglied des Nouveau Réalisme, der in Auseinandersetzung mit Marcel Duchamp Alltagsobjekte in die Kunst holte. Heute lebt Spoerri in Wien und in der Toskana.

Foto: Kunsthalle Krems/APA/Schedl

Wie revolutionär die Franzosen und wie politisch zehn Kilo Käse sein können, verriet Spoerri Anne Katrin Feßler.

Wien/Krems - "Prillwitzchen" heißen Daniel Spoerris allerneueste Arbeiten. In einer Vitrine in seiner Wohnung am Wiener Naschmarkt hat er die kleinen janusköpfigen Figuren wie eine Sammlung von Kuriositäten aufgereiht. Aus Rehbockschädeln mit verkümmerten Geweihen, Knöpfen, Federn, Schrauben lässt Daniel Spoerri die Wesen erstehen; er findet das Material dazu auf Flohmärkten.

Zeit seines Lebens war Daniel Spoerri, der heuer seinen 80. Geburtstag feierte, auf der Jagd nach dem Absurden, legt Sammlungen alltäglicher und ungewöhnlicher Gegenstände an, die er immer wieder in seine, auch sehr stark mit (Sprach-)Witz operierende Kunst integriert: In der Kunsthalle Krems nimmt er ein Objekt in die Hand und setzt es sich auf die Nase. Was ist das? "Eine Sehschule für schielende Kinder".

Neugierig, als würde er nicht nur Altbekanntes, sondern auch Neues entdecken, stiefelt er durch seine und die Ausstellung über die Nouveaux Réalistes. Auch dort ist dem Jubilar ein Raum gewidmet: "Das ist eigentlich ein weiches Fallenbild", bei dem das Geschirr nur auf das Tischtuch geklebt war, klärt der Begründer der Eat-Art vor einem seiner buchstäblichen Tafelbilder, den Tableaux pièges, auf. Das müsse erst später auf Holzplatte montiert worden sein, wundert er sich.

Die Ausstellung "Nouveau Réalisme" versammelt rund 120 Arbeiten von Spoerris Kollegen - von Arman über Yves Klein bis Jacques de la Villeglé. Gründungsmitglied Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle fehlen, da ihre Positionen den Hauptleihgeber, Jan Ahlers, nicht interessieren. Erst kürzlich habe man in Wien und Klosterneuburg Personalen von ihnen sehen können, räumt Kunsthallen-Direktor Hans-Peter Wipplinger ein.

Standard: 80 Jahre Daniel Spoerri, 50 Jahre Nouveaux Réalistes? War heuer viel los?

Spoerri: Nein. In Paris wurde das völlig totgeschwiegen, vermutlich weil die Franzosen - bis auf Villeglé - alle schon gestorben sind.

Standard: Tinguely kannten Sie bereits aus Zürich, wo Sie zuerst Tänzer waren und Theater machten. Wie lernten die Nouveaux Réalistes einander in Paris 1960 kennen?

Spoerri: Wer dieselbe Wellenlänge hat, findet sich immer. Wir hatten fast alle kein Telefon, aber man wusste, es gibt das "La Coupole" in Montmartre. Da trafen sich viele Künstler.

Standard: Meist wird der Kunstkritiker Pierre Restany als Zentrum der Nouveaux Réalistes angegeben.

Spoerri: Stimmt nicht. Yves Klein hat ihn, glaube ich, aufgetan. Der Nouveau Réalisme war eine Reaktion auf die Malerei des Informel, Tachismus und abstrakten Expressionismus. Für uns war die gespritze Farbe auf der Leinwand zur Diarrhöe gewordene Malerei. Absurderweise erschien Restanys Buch über den abstrakten Expressionismus ein halbes Jahr nach unserer Gründung. Es kam viel zu spät heraus; dann, als er schon mit Georges Mathieu und all den Leuten abgeschlossen hatte.

Standard: Wie sah Yves Kleins Rolle aus?

Spoerri: Klein war in derselben Pariser Galerie wie Mathieu. Dort fochten sie regelrecht ihren Kampf aus. Mathieu war damals der große Zampano, der im Overall kiloweise Farbe auf die Wände spritzte und in zwanzig Minuten ein riesiges Gemälde schuf. Monsignore Otto Mauer hat mir einmal gesagt: Ich weiß nicht, was die Leute dagegen haben, ich kann auch in zwanzig Minuten die unbefleckte Empfängnis beweisen. Yves Klein erfand dort "La pinceau humaine", das war auch schon sehr theatralisch, und zog mit Farbe eingestrichene nackte Studentinnen über die Leinwand.

Standard: Reagierte der Nouveau Réalisme auch auf die Zeit?

Spoerri: Ja, heute sehe ich noch andere Verbindungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man diese Helden- und Adelsverehrung endgültig satt. Und so nahm ich kein teures Geschirr oder Silber, sondern mein einfaches Geschirr und sagte: Schaut euch das an, das ist genauso interessant! Ich sammle Dinge wegen ihrer Unterschiedlichkeit. In der industriellen Fertigung ist das Individuelle Ausschuss. Früher war das Einmalige das Besondere. Man kann von Objekten viele Erkenntnisse über die Zeit ableiten.

Standard: Der Nouveau Réalisme wurde auch sehr kritisch rezipiert. Man warf ihm vor, als Variante amerikanischer Pop-Art eine kapitalistische, unkritische Dimension zu haben. Ein Missverständnis?

Spoerri: Ja. Man sah nicht, dass der Nouveau Réalisme sehr viel kritischer als die Pop-Art war. Vielleicht weil Restany, Klein und Arman sich politisch nie als extreme Linke positioniert haben.

Standard: Und der Rest?

Spoerri: Wir waren überhaupt eher unpolitisch. Einzig 1977 haben wir etwas dezidiert Politisches gemacht, aber das war lange nach der Gründung; Yves Klein war sogar schon tot. Wir waren von Präsident Pompidou zu einer Ausstellung im Grand Palais geladen. Das nahmen die Linken zum Anlass für Proteste. In Frankreich sitzt den Leuten die Französische Revolution in den Knochen; selbst wenn nur 500 Lokomotivführer streiken, dann protestiert ganz Frankreich mit.

Die Linken fanden, dass es dem Präsidenten nicht zustehe, eine Ausstellung zu initiieren. Da zeitgleich die englische Königin zu Besuch in Paris war, schritt der Polizeichef gewaltvoll gegen die Demonstranten ein. Von unserem Vorhaben, die Ausstellung zu schließen, ließen wir nur ab, weil uns der Kulturminister zugestand, unser Missfallen in der Präsentation kundzutun. Ich habe zehn Kilo Käse gekauft und an Schnüren aufgehängt. Es war Sommer, und kein Mensch ging mehr in die Ausstellung. Nach vier Wochen wurde sie geschlossen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20./21.11.2010)