Barack Obama zeigte sich von seiner charmantesten Seite, als er den alten Kontinent am Freitag im verregneten Lissabon betrat. "Stolz" sei er, dass er in nicht einmal zwei Amtsjahren nun bereits mehr als ein halbes Dutzend Mal nach Europa gekommen ist, schrieb der US-Präsident in einem Gastkommentar für führende Zeitungen der Union - auch im Standard. Die Europäer seien für die USA der wichtigste Partner - ob in der Nato oder in der EU.

Das wird den meisten Europäern schmeicheln. Und es stimmt ja vordergründig auch. Die transatlantischen Verflechtungen, der offene wirtschaftliche Austausch sind umfangreich und stark. Gemeinsam mit anderen Partnern laufen derzeit so viele gemeinsame euro-amerikanische Militäraktionen wie nie zuvor, ob in Afghanistan oder auf dem Balkan. Aber auf der Kehrseite der engen Kooperationen tun sich gefährliche Brüche auf.

Die Nato, im Gleichschritt auch die Europäische Union, haben eineinhalb Jahrzehnte eines starken Wachstums hinter sich: Einerseits ist die Militärallianz durch Erweiterung nach Osteuropa von 16 Mitgliedern noch im Jahr 1999 auf inzwischen 28 Bündnispartner angewachsen. Die EU hat sich in der gleichen Zeit von 12 auf 27 Mitglieder erweitert. Zusätzlich hat die Union mit der Einführung der Währungsunion einen beispiellosen Akt der Vertiefung gesetzt. Die nächsten Beitrittskandidaten klopfen schon lange an der Tür - in der Nato wie in der EU. Ein Erfolg also.

Genau das markiert eben auch das Problem. Beide Zusammenschlüsse, die Allianz ebenso wie die Union, leiden an den Folgen dieser Umwälzungen, die sie mangels mutiger Reformen im Inneren bisher nur schlecht verdaut haben. Die schönen Worte der wechselseitigen Zuwendung können darüber nicht hinwegtäuschen.

Beispiel Nato: Wenn Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Lissabon optimistisch davon sprach, dass die erneuerte Allianz "Fett wegschneiden und Muskeln" aufbauen werde, um noch effizienter zu sein, dann macht er unfreiwillig genau das deutlich: Die Nato bzw. die Armeen ihrer Mitglieder sind große, unbewegliche, viel zu teure Apparate geblieben. Reformen kommen aus Finanznot.

Die Heere entsprechen nicht den Anforderungen und Gefährdungen, die die moderne Welt für sie bereithält. Das Beispiel Afghanistan, ein "Ernstfall" unserer Tage, zeigt zudem, wie uneinig sich die Partner hinsichtlich des Sinns des Einsatzes sind. Der in Lissabon beschlossene Abzugsplan ist nicht Konsequenz erfolgreichen militärischen Vorgehens, sondern aus der Not geboren, dass viele Staaten so rasch als möglich weg wollen vom Hindukusch.

Nicht viel anders ist es mit den europäischen Nationalstaaten in der EU selbst. Die Überlebenskrise des Euro, die Zweifel an ihm zeigen, wie wenig die Mitgliedsstaaten zu einer echten, auch politischen Integration bereit sind. Ein Zerbrechen der EU ist plötzlich denkbar. Für die Europäer geht es also um viel, vielleicht sogar um alles. (Thomas Mayer /DER STANDARD, Printausgabe, 20.11.2010)