Die Geheimnisse liegen im Wald verborgen. Oksana Sabuschko (50) ist eine der wichtigsten ukrainischen Schriftstellerinnen.

Foto: Ivan Put

... der die jüngere Geschichte der Ukraine erzählt und den Mechanismen der Korruption nachspürt.

Wien - Kleine Mädchen haben sich ein Spiel von ihren Müttern abgeschaut. Ukrainische Frauen vergruben im Wald die Symbole einer von den autoritären Regimes plötzlich verbotenen Religion in der Erde: liebgewonnene Ikonen, deren Besitz ein Grund für die Deportation nach Sibirien sein konnte. Jahrzehnte später pflegen in der dumpf pragmatisierten Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik ihre Töchter und Enkeltöchter diese Tradition. Ihre wertvollsten Mädchenschätze arrangieren sie in kleinen, mit Alufolie ausgelegten Gruben, die mit einem Stück Glas bedeckt und unter der Erde versteckt werden.

Die Erde birgt in Oksana Sabuschkos fulminantem Epochenroman "Museum der vergessenen Geheimnisse", unter feuchten Waldböden oder auf mittlerweile urbanisiertem Gelände die verdrängten und versteckten Geheimnisse mehrerer Generationen. Sabuschkos Roman, der in der vorzüglichen Übersetzung von Alexander Kratochvil soeben im Droschl Verlag erschienen ist, umfasst die turbulente ukrainische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, von der gewaltsamen Einverleibung des Landes in die Sowjetunion über die Besatzung durch die Deutschen bis in die Gegenwart.

Die Hauptfigur, die im Erzähljahr 2003 mit märchenhafter Intuition den "Geheimnissen" hinterherspürt, ist eine 39-jährige Journalistin: Daryna Hoschtschynska hat es in einer von Korruption beherrschter Männerwelt ganz nach oben geschafft. Ihre TV-Porträts stiller Alltagshelden sind legendär, ihr Wort hat Gewicht.

Es ist dies ein Anliegen Oksana Sabuschkos, selbst eine der wichtigsten weiblichen Autorenstimmen der Ukraine: die betörende, geduldige Kraft der Frauen gegen die verdrängenden Mechanismen der Herrschaftserhalter ins Spiel zu bringen. Das liest sich weder als Utopie noch als Klischee. Daryna, die sich noch mit mächtigen Bossen anlegen wird, setzt Schönheit und Intellekt kalkuliert ein.

Gefräßige Kompensationsgier

Sie formuliert eine Erkenntnis: Was die sogenannte Elite ihres Landes in Gang hält, ist "die tief verwurzelte, gefräßige Gier, die Erniedrigung der Sowjetzeit zu kompensieren, egal um welchen Preis." Sie fühlt sich von diesem Apparat abgestoßen und flieht in die Vergangenheit. Immer wieder ist im Roman von "zu vielen Toten" die Rede - und gemeint sind nicht die Millionen Ukrainer, die 1933, als Stalin die "Kornkammer" der Sowjetunion ausräumte, im Holodomor umkamen, einer der größten Hungersnöte der Menschheit, die mittlerweile als Genozid anerkannt wird - wenn auch nicht von Russland. Die Toten, das sind die zweiten Protagonisten im Museum: Personen, deren Geschichten nach ihrem Tod nicht fertig erzählt wurden; die verborgene und zugleich markante Spuren hinterlassen haben, denen erst in Darynas Museum Gerechtigkeit widerfahren soll.

So die Künstlerin Wlada, die in einer unglücklichen Beziehung mit einem Parlamentsabgeordneten lebte und im Auto verunglückte. In ihrem Zyklus Geheimnisse verarbeitete sie das Versteckspiel aus der Mädchenzeit. Oder Helzja, eine Partisanin aus der Aufständischenarmee, deren Mona-Lisa-Lächeln auf einem alten Foto Daryna nicht mehr losließ und in deren Geschichte die Journalistin ihr eigenes Leben entdeckte.

Auch die Partisanen haben ihre Geheimnisse im Waldboden begraben: Geld und Dokumente wurden in blechernen Milchkannen versteckt und man hoffte, dass diejenigen, die das Versteck kannten, ihr Geheimnis nicht mit den Tod nehmen mussten.

Historische Gerechtigkeit

Und nicht zuletzt Darynas Vater, der am Bau eines ukrainischen Kulturpalasts beteiligt gewesen war (der gleich nach der Eröffnung, weil er jenen in Moskau an Schönheit und Opulenz übertraf, wieder geschlossen werden musste!) und der seinen Kampf für die Wahrheit mit dem Tod bezahlen musste. Dreißig Jahre später kämpft sich seine Tochter mit einem ebenso unerschütterlichen Glauben an so etwas wie historische Gerechtigkeit durch die Archive - mit wenig Erfolg.

Auffallend ist das sich verändernde Bild der Frauen: Von den Heldinnen im Krieg, im Untergrund und im Sowjetalltag ist in der Gegenwart nichts geblieben. Frauen sind in dieser "gefräßigen", gierigen postsowjetischen Ukraine zu Marionetten in schlechtbezahlten Sekretärinnenposten geworden, die sich damit begnügen, ihren Chefs mit sexuellen Freuden zu dienen. Und Daryna wirkt dagegen mit ihrem altmodischen Idealismus, mit ihren moralischen Ansprüchen und ihrem Ehrbegriff selbst wie eine ihrer Figuren aus längst vergangenen Zeiten. Neben der Sehnsucht an diese ausgewechselten Ideale wird auch ein Generationenkonflikt ersichtlich: "Einen Dreck ist sie wert, eure ganze Überlebenserfahrung", formuliert sie ihre Wut auf die Generation der Mütter, die ihren Kindern nur die Überzeugung mitgegeben haben, dass diese ein glücklicheres Leben führen würden. Dennoch stehen diese Töchter heute mit leeren Händen da.

Das "Museum der vergessenen Geheimnisse" ist ein 750 Seiten starkes fantastisches Gesellschaftsporträt, das bis auf den Grund eines zerfallenden Systems vordringt. Es ist zugleich eine zärtliche Geschichte über die wahre Liebe und ein szenisch virtuoser, sprachlich vielseitiger, überschäumender Heldenroman. (Isabella Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 19. 11. 2010)