Bild nicht mehr verfügbar.

Vor genau einem Jahr wurde Ernst von Glasersfeld die "Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold" verliehen.

Foto: APA/Neubauer

Massachusetts/Klagenfurt - Der österreichisch-amerikanische Philosoph Ernst von Glasersfeld ist tot: Der Mitbegründer des Radikalen Konstruktivismus ist am Freitag in seiner Wahlheimat im US-amerikanischen Bundesstaat Massachusetts 93-jährig verstorben. Glasersfeld hatte an Pankreaskrebs gelitten, wie der Klagenfurter Philosophieprofessor Josef Mitterer, Glasersfelds Nachlassverwalter, mitteilte.

Auf den Tag genau vor einem Jahr hatte Glasersfeld die Ehrenmedaille der Stadt Wien in Gold erhalten. Er erklärte zu diesem Anlass: "Für jemanden, der sein Leben lang versucht hat, sich selbst nicht ernst zu nehmen, ist eine solche Auszeichnung ein völlig erschütternder Schock."

Flucht aus Österreich

Glasersfeld wurde am 8. März 1917 als Sohn eines k.u.k. Diplomaten und einer Skirennläuferin in München geboren. Er hatte zunächst die Staatsbürgerschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie, seit 1974 war er US-Amerikaner. Der Philosoph, der ohne abgeschlossenes Studium eine akademische Karriere hinlegte, wuchs in Meran dreisprachig auf (Deutsch, Englisch, Italienisch) und lernte im Internat in der Schweiz Französisch als vierte Sprache. Seine akademische Laufbahn begann mit dem Studium der Mathematik an der ETH Zürich und setzte sich - aus Geldnot - an der Universität Wien fort. Doch nach kurzer Zeit wich Glasersfeld 1937 der antisemitischen Stimmung und der Präsenz der Nazis an der Hochschule und verließ Österreich.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Australien als Skilehrer(!) und einem Zwischenspiel in Paris emigrierte Glasersfeld nach Irland, lebte dort als Bauer und traf mit Persönlichkeiten wie Erwin Schrödinger und James Joyce zusammen. Als Kulturjournalist kehrte er nach dem Krieg nach Südtirol zurück und bot erste konstruktivistische Reflexionen. Er arbeitete für den "Standpunkt" in Bozen und die "Weltwoche". 1959 wurde er Mitarbeiter von Silvio Ceccato, Gründer des Zentrums für Kybernetik der Universität Mailand, und arbeitet zunächst in Italien und dann in den USA. Aus seinen Arbeiten zog Glasersfeld u.a. den Schluss, dass "jede Sprache eine andere begriffliche Welt bedeutet".

Primatenforschung und Radikaler Konstruktivismus

Danach folgte der Wissenschafter einem Ruf als Professor für Kognitive Psychologie an die University Georgia in Athens, wo er mit seinen Beiträgen zur Primatenforschung für Aufsehen sorgte. Glasersfeld beschäftigte sich mit dem Werk Jean Piagets und lieferte Beiträge im Bereich der Lerntheorie und der Unterrichtsdidaktik. Er gilt mit seinem Freund Heinz von Foerster als Mitbegründer des Radikalen Konstruktivismus. Die Arbeiten von Glasersfeld haben u.a. in den Kognitionswissenschaften, in der Managementlehre und Ökonomie, in den Literatur- und Medienwissenschaften, in der Mathematikdidaktik und in der Philosophie Spuren hinterlassen.

Den Radikalen Konstruktivismus beschrieb er einmal als "eine unkonventionelle Weise, die Probleme des Wissens und Erkennens zu betrachten". Die Theorie beruhe auf der Annahme, dass alles Wissen, wie immer man es auch definieren möge, nur in den Köpfen von Menschen existiert und dass "das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrungen konstruieren kann". Glasersfeld: "Was wir aus unserer Erfahrung machen, das allein bildet die Welt, in der wir bewusst leben."

Auszeichnungen und Publikationen

Nach seiner Emeritierung 1987 war Glasersfeld am Scientific Reasoning Research Institute der University of Massachusetts (USA) tätig. Neben Ehrendoktoraten der Universität Klagenfurt und der Universite Du Quebec in Montreal hat Glasersfeld Auszeichnungen von Universitäten und wissenschaftlichen Vereinigungen in den USA, Kanada, Belgien und Deutschland erhalten.

Vor zwei Jahren veröffentlichte Glasersfeld sein Buch "Unverbindliche Erinnerungen: Skizzen aus einem fernen Leben" (Folio Verlag, Wien 2008). Eine Doppelbiografie von Glasersfeld und Foerster erschien 1999 unter dem Titel "Wie wir uns erfinden". Weitere deutschsprachige Werke umfassen "Wissen, Sprache und Wirklichkeit" (1987), "Über Grenzen des Begreifens" (1996), "Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme" (1997) und "Radikaler Konstruktivismus - Versuch einer Wissenstheorie" (2005). (APA/red)