"Aschenputtel bleibt ein Märchen. Der Prinz heiratet nicht eine Magd - sondern immer die Prinzessin."

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Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht.
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"Hurra, wir dürfen zahlen", lautet der Titel des Buches der deutschen Autorin Ulrike Herrmann. Sie thematisiert die sogenannte "Mittelschicht", die in Zeiten des Sparens oft am stärksten belastet wird. Warum sich die Mittelschicht eher mit den Reichen als mit den Armen solidarisiert, welche Auswirkung der Faktor Bildung auf den sozialen Stellenwert hat und warum die Pensionisten in Österreich bevorzugt behandelt werden, erklärt Ulrike Herrmann im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Die Regierung hat ein neues Budget erstellt, vor allem die Familien werden belastet. Liest man Ihr Buch, so stellt das keine Überraschung mehr dar. Der Titel lautet "Hurra, wir dürfen zahlen". Warum wehrt sich die "Mittelschicht" nicht?

Herrmann: Meine These ist die, dass die Mittelschicht immer Gesetze akzeptiert, die ihr selber schaden. Denn sie identifiziert sich mit den Reichen und bekommt nicht mit, dass die Vermögenden geschont werden. Das ist dieses Mal auch so. Dabei müsste man eigentlich jetzt in der Finanzkrise vor allem die Reichen belasten. In Österreich besitzen die obersten zehn Prozent 66 Prozent des Volksvermögens, während die unteren 90 Prozent nur noch auf ein Drittel kommen. In der Finanzkrise wurde mit Steuermilliarden also vor allem das Vermögen der Reichsten gerettet. Es wäre daher ein Gebot der Fairness, die Vermögenssteuern wieder einzuführen, und es müsste auch hier eine Erbschaftssteuer geben. Es ist beispiellos in Europa, dass es in Österreich keine Erbschaftssteuer gibt. Denn davon profitieren nur Leute, die wirklich viel zu vererben haben, sprich die obersten zehn Prozent.

derStandard.at: Bevor wir jetzt weiter in die Materie eintauchen: Was ist denn eigentlich die Mittelschicht? Wie kann man die Mittelschicht definieren?

Herrmann: Ich habe in meinem Buch eine gängige Definition übernommen, die vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung stammt. Sie definieren die Mittelschicht als die Gruppe, die zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Nettoeinkommens hat. Das sind in Deutschland noch 58,7 Prozent. Die Mittelschicht schrumpft aber rasant. Innerhalb von zehn Jahren haben 4,6 Millionen Menschen die Mittelschicht verlassen. Die meisten sind in die Unterschicht abgestiegen.

Bedauerlicherweise gibt es keine entsprechenden Zahlen für Österreich. Es gibt kaum Daten über die Einkommen von Selbstständigen. Um die Bandbreite der Einkommen zu kennen, braucht man aber auch unbedingt auch Zahlen über die Selbstständigen, weil sie ja im Durchschnitt mehr verdienen als normale Arbeitnehmer. Denken Sie an Anwälte, Ärzte oder Unternehmer. Das einzige was man für Österreich verlässlich sagen kann, ist, dass die Lohnquote (Verhältnis von Einkommen aus nicht-selbständiger Arbeit zum Volkseinkommen, Anm.) nur noch bei 60 Prozent liegt. Früher betrug sie mal 80 Prozent.

derStandard.at: Warum gibt es diese Tendenz, dass die Mittelschicht zur Kassa gebeten wird?

Herrmann: Es ist ja überall so, Sie können europaweit gucken: Immer wenn es darum geht, die Finanzkrise zu finanzieren, wird bei den Sozialhaushalten gespart und die Mittelschicht belastet. Typischerweise werden die Steuern und Abgaben erhöht, oder es wird bei den Beamten gekürzt, was ja auch die Mittelschicht trifft.

Was Sie hingegen nirgends sehen, ist, dass die Steuern für die Reichen erhöht werden. Das gab‘s bisher in ganz Europa nicht. Außer bei irgendwelchen absurden Yacht-Steuern.

derStandard.at: Der Anteil der Menschen, die sich der Mittelschicht zugehörig fühlen, ist höher als es tatsächlich der Fall ist. Warum ist das so?

Herrmann: Es gibt lustige Studien dazu. In einer Umfrage in Deutschland sollten sich Leute einordnen, Manager genauso wie Arbeitslose – auf einer Skala von 1 unten bis 10 oben. Und da kam raus, dass Arbeitslose, die ja zu den Ärmsten gehören, sich immer noch bei 4,6 einordnen und Manager, die zu den Reichsten gehören, bei 6,6. Das heißt, die oberen und die unteren Ränge sind nicht belegt. Das liegt daran, dass die Reichen sich systematisch arm rechnen.

Österreich ist ein reiches Land, aber versuchen Sie mal, einen Reichen zu finden. Die Reichen werden Ihnen wortreich erklären, warum ausgerechnet sie es besonders schwer haben und warum sie schon fast zum Prekariat gehören. Umgekehrt ist es so, dass die Armen sich ihrer Armut schämen und sich nach oben orientieren. Sie wollen weder sich selbst noch anderen eingestehen, dass sie zu den Verlierern zählen. Sie sehen sich daher auch irgendwo in der Mitte. Weil aber alle denken, sie gehörten zur Mittelschicht, kann überhaupt nicht darüber diskutiert werden, dass sowohl Deutschland als auch Österreich Klassengesellschaften sind. Das Vermögen konzentriert sich bei ganz wenigen Familien.

derStandard.at: Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Selbstbetrug. Wieso?

Herrmann: Die meisten Leute haben einen Aufstieg erlebt. Vor allem einen Bildungsaufstieg. In Deutschland haben ungefähr 50 Prozent eine bessere Berufsausbildung als die Eltern. Dies führt dann zu der Idee, man sei in der Elite angekommen. Der Bildungsaufstieg wird mit einem ökonomischen Aufstieg verwechselt. Doch das ist nicht das Gleiche. Das erstaunliche Phänomen ist ja, dass wir eine Gesellschaft haben, die so gut ausgebildet ist wie noch nie. Das gilt auch für Österreich. Trotzdem stagnieren die Reallöhne und die Lohnquote sinkt. Aber die Arbeitnehmer sind so stolz auf ihren eigenen Bildungsabschluss, dass sie nicht bemerken, dass sich ihre Ausbildung nicht in ihrem Einkommen umsetzt.

derStandard.at: Früher war es einfacher, den Aufstieg zu schaffen?

Herrmann: Nein, aber man konnte sich wenigstens nicht einbilden, man sei aufgestiegen.

derStandard.at: Sie schreiben, man sollte sich Ihrer Ansicht nach mit der Unterschicht solidarisieren, um Verbesserungen herbeizuführen ...

Herrmann: Das Solidarisieren ist gar nicht so nötig, es würde schon völlig reichen, wenn die Mittelschicht sich nicht abgrenzt – und vor allem ihre eigenen Interessen wahrnimmt.

derStandard.at: In der Realität ist es aber so, dass man über die "Sozialschmarotzer" schimpft und ein Arbeitsloser, der sich nichts zu Schulden kommen hat lassen, ist weitaus unbeliebter als etwa ein Karl-Heinz Grasser, dessen Konten die Justiz gerade durchleuchtet.

Herrmann: Sehr schön zusammengefasst. Das ganz Fatale ist, dass die Mittelschicht immer glaubt, sie gehöre zu den Reichen. Das liegt auch daran, dass sie sich so vehement nach unten abgrenzt und die Armen verachtet. Daraus folgt dann ein typischer Fehlschlussnach dem Motto: Ich bin ja nicht arbeitslos, also bin ich Leistungsträger, also bin ich Elite, also bin ich schon fast reich. Zentral ist auch die Diskreditierung des Staates. Es läuft ja so: Wenn die Reichen eine Steuersenkung für sich durchsetzen wollen, wird der Mittelschicht erklärt, dass der Staat ja sowieso nur für diese angeblichen Sozialschmarotzer da sei. Ein Trick dabei ist, die Einwanderer zu diffamieren. Stets wird behauptet, sie würden nur in unsere Sozialsysteme einwandern und dort die ganz großen Kosten verursachen.

Wenn die Mittelschicht erst einmal auf diese Lügen hereinfällt, dann ist sie bereit, Steuersenkungen durchzuwinken. Dann ist ihr egal, dass die Reichen Millionen sparen und sie selbst nur 50 Euro. Hauptsache, der Staat wird "schlanker". Dabei übersieht die Mittelschicht allerdings, dass vor allem sie vom Staat profitiert. Denn wer stellt denn die Beamten oder will sein Kind auf die Universität schicken? Bestimmt nicht die Armen.

derStandard.at: In Österreich gibt es genauso wie in Deutschland immer noch ein duales Schulsystem. Warum wehren sich Politiker, die ÖVP, gegen eine gemeinsame Schule der 10-14-Jährigen?

Herrmann: Vor allem die Mittelschicht will das Gymnasium nicht aufgeben. Sie hat Angst, dass ihre Kinder verlieren. Das ist dann wieder der Trugschluss, dass man über Bildung nach oben kommt.

Ich glaube aber, dass sich die Debatte in den nächsten Jahren komplett ändern wird. In Österreich haben Sie ja quasi schon Vollbeschäftigung, und auch in Deutschland wird es 2025 soweit sein. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen vom Arbeitsmarkt, und es kommt fast niemand mehr nach. Es gibt ja kaum noch Jugendliche. Wir werden es uns daher gar nicht mehr leisten können, große Teile eines Jahrganges schlecht auszubilden.

derStandard.at: Dass Menschen nicht aufsteigen, hat aber nicht nur mit der Bildung zu tun, wie Sie schreiben, sondern auch mit anderen Eigenschaften, zum Beispiel dem Vornamen, den ein Kind hat. Wenn ich mein Kind Sophie und nicht Jennifer nenne, schaffe ich aber nicht automatisch den Aufstieg?

Herrmann: Ich habe Untersuchungen zitiert, wo sich herausstellte, dass wenn Grundschullehrer Namen wie Kevin oder Chantal hören, ihnen sofort klar ist, das es ein Kind aus der Unterschicht sein muss. Diese Studien habe ich in meinem Buch erwähnt, um den Lesern deutlich zu machen, wie sehr die Schichtenfrage bis in den Alltag hineinragt und alles prägt. Auch bei Partnerschaften kann man ja genau zeigen, dass die Menschen fast immer in die eigene Schicht einheiraten. Die Oberschicht wählt Partner aus der Oberschicht, die Mittelschicht bleibt in der Mittelschicht, und die Unterschicht heiratet in die Unterschicht. In Deutschland wird sehr gern über die "Parallelwelt" Unterschicht debattiert, aber man muss sich klar sein, dass die Oberschicht ebenfalls eine Parallelwelt ist. Oder anders gesagt: Aschenputtel bleibt ein Märchen. Der Prinz heiratet nicht eine Magd – sondern immer die Prinzessin.

derStandard.at: Es ist aber sicher nicht so, dass alle Reichen absichtlich die Armen nach unten drücken und bösartig sind. Was können die Reichen tun?

Herrmann: Ich will nicht sagen, dass die Vermögenden bösartig sind. Eine moralische Debatte hilft überhaupt nicht weiter. Die Eliten nehmen nur ihre Interessen wahr. Daher würde ich gern erreichen, dass auch die Mittelschicht endlich ihre Interessen wahrnimmt. Im Augenblick stelle ich aber fest, dass sie sich dabei geradezu tragisch bescheuert anstellt.

derStandard.at: Auch Studenten sind vom Budgetvorschlag betroffen, weil sie ab 24 keine Familienbeihilfe mehr erhalten werden. Die Skepsis gegenüber Studenten ist ja auch weitreichend. Die Frage "Wieso muss ich als Arbeitender das Leben von Studenten bezahlen?" wird oft gestellt. Erkennen Sie da auch eine Parallele zur Abneigung, die es gegenüber der Unterschicht gibt?

Herrmann: Sehr viele Studenten haben Eltern, die selbst studiert haben. Sie gehören also zu einer durchaus privilegierten Schicht. Insofern ist es ungerecht, wenn ausgerechnet die Universität umsonst ist, während gleichzeitig Kindergärten oft noch Gebühren kosten, obwohl dort alle Kinder sind, egal welchen Bildungsstatus die Eltern haben.

Daher finde ich es richtig, dass Absolvententen einer Universität für diese Ausbildung bezahlen müssen – zumal sie ja dank ihres akademischen Abschlusses später meist besser verdienen als durchschnittliche Angestellten. Falsch finde ich aber, dieses Geld genau dann einzusammeln, wenn die Leute studieren – also Studiengebühren einzuführen oder die Familienbeihilfe zu verkürzen. Man müsste hinterher kassieren, wenn die Studenten tatsächlich einen Abschluss erreicht und einen guten Job gefunden haben.

Dafür müsste man gar nicht extra eine Sondersteuer einführen, sondern es würde völlig reichen, den Spitzensteuersatz in der Einkommenssteuer anzuheben. Dann würden zielgenau jene mehr zahlen, die dank ihres Studiums auch besser verdienen. Gleichzeitig wäre sichergestellt, dass jene, die trotz ihres Studiums keinen guten Job gefunden haben, nicht belastet werden.

derStandard.at: Eine starke Lobby haben in Österreich die Pensionisten. Sie schaffen es, sich durchzusetzen. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Herrmann: Österreich macht seine Arbeitsmarktpolitik mit den Pensionisten. In der Altersgruppe zwischen 55 und 64 arbeiten in Österreich nur 41 Prozent der Leute, in Deutschland sind es immerhin 56 Prozent. Stellen Sie sich mal vor, wie hoch die Arbeitslosigkeit in Österreich wäre, wenn all Ihre Pensionisten arbeiten würden. Es gab immer Interesse daran, dass möglichst viele Arbeitnehmer in Frühpension gehen. Aber das funktioniert ja nur, wenn man sie nicht noch schlechter stellt. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 16.11.2010)