Zur Person: Simon Teune (34) ist Soziologe am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung mit Schwerpunkt Zivilgesellschaft und politische Mobilisierung in Europa.

Foto: WZB / David Ausserhofer

STANDARD: In Stuttgart gibt es massiven Protest gegen den Umbau des Bahnhofs, in Gorleben demonstrieren Zehntausende gegen die Atompolitik. Sehen Sie Parallelen?

Teune: Es gibt einen starken Konflikt zwischen Regierenden und Regierten. Die Bürger wehren sich dagegen, dass politische Zielvorgaben gemacht werden und problematische Aspekte unter den Tisch gekehrt werden.

STANDARD: Was löst den Frust aus?

Teune: In Stuttgart stellte sich unter anderem heraus, dass der Umbau viel teurer wird als geplant. Und die Atomkraftgegner wollen nicht akzeptieren, dass trotz massiver geologischer Bedenken Gorleben wieder als Endlager in Betracht gezogen wird.

STANDARD: In beiden Fällen richtet sich der Zorn gegen schwarz-gelbe Regierungen. Ist das Zufall?

Teune: Das glaube ich nicht. Die Haltung von CDU und FDP wird als starr empfunden und als Klientelpolitik zugunsten wirtschaftlicher Interessen. Kanzlerin Angela Merkel hat ja den unter Rot-Grün vereinbarten Atomausstieg zugunsten der Kernkraftbetreiber wieder aufgeschnürt, nachdem der Konflikt eigentlich befriedet war.

STANDARD: Hat sich die Anti-Atomkraft-Bewegung seit den Achtzigerjahren verändert?

Teune: Die Ablehnung von Atomkraft ist Mainstream geworden. Zwei Drittel der Deutschen sind heute gegen Kernkraft .

STANDARD: In einigen Monaten rollt der Castor wieder. Wie könnte man den Konflikt lösen?

Teune: Dieser Konflikt ist nicht mehr zu lösen. Zur Deeskalation könnte nur noch beitragen, dass die Regierung sich nicht auf Gorleben als Endlager versteift, aber danach sieht es nicht aus. Und das löst ja auch noch nicht die grundsätzliche Frage längerer Laufzeiten für Atomkraftwerke.

STANDARD: Können die Demonstranten irgendetwas bewirken?

Teune: Sie können vor allem eine Stimmung deutlich machen. Das Gesetz zur Verlängerung der AKW-Laufzeiten ist noch nicht vom Bundespräsidenten unterschrieben. Die SPD will das Verfassungsgericht anrufen. Bilder aus Gorleben, die zeigen, wie Polizisten den Weg für den Castor nur noch mit Gewalt frei machen können, stellen die Legitimität des Regierungsbeschlusses infrage.

STANDARD: Welche Lehren kann man aus Stuttgart 21 und Gorleben für politische Großprojekte ziehen?

Teune: Entscheidungsprozesse müssen im Parlament und im Mediationsverfahren transparenter werden. Wenn der Eindruck der Mauschelei entsteht, ist das eine Gefahr für die Demokratie. (Birgit Baumann, DER STANDARD, Printausgabe, 9.11.2010)