Floridsdorf: trotz hässlicher Plakatwände ein Haus, das von Menschen für menschliche Zwecke gebaut wurde.

 

Foto: Naqvi

Was empfinden wir, wenn sich etwas in unserer Umgebung verändert - wenn ein großer Baum bei einem Sturm umfällt oder wenn ein altes Haus, an dem wir täglich vorbeispaziert sind, plötzlich nicht mehr steht? Auch bei verschwundenen Dingen, nicht nur bei Menschen, empfinden wir Trauer: Wie bei dem Baum, der tatsächlich gestorben ist, übermannt uns beim Abriss des Hauses ein Gefühl, in dem sich Wut über den Verlust, Unverständnis und Melancholie über den veränderten Anblick vermengen.

Wien hat uns mit seiner in den letzten Jahren akut gewordenen Neuerungssucht und einer Immobilienspekulation, die sobald nicht enden wird, Anlass genug gegeben zu trauern: In rasantem Tempo werden alte Häuser planiert oder durch Aufsätze und Ausbauten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, werden Grünflächen, Äcker und Weingärten zugepflastert und Hochhäuser aufgestellt, die die Vedouten der Stadt auf ewig verändern. Dass diese Veränderungen sich im einkommensschwachen, migrantenreichen Nordosten (ich denke an den 20., 21. und 22. Bezirk) und im betuchten Süden gleichermaßen abspielen, ist ein Grund mehr, sie zu beklagen.

Auf der Internet-Seite der Wiener Stadtplanung ist von Sozial- und Umweltverträglichkeit die Rede, von der Sicherung der "Lebensqualität". Leider decken sich aber die Ziele nicht mit dem Gefühl, das ich - seit dreißig Jahren im Sommer aus New York nach Wien kommend - habe und mit vielen meiner Wiener Freunde und Freundinnen teile. Ganz zu schweigen von älteren Menschen, für die sich ihr Umfeld in so kurzer Zeit auf so gravierende Weise verändert hat, dass sie sich nicht mehr in ihm zurechtfinden und mit ihm identifizieren können.

Die innere Dislokation, die sich durch die äußeren Veränderungen einstellt, sollte uns zu denken geben. Wenn sich unser architektonisches Erbe verflüchtigt, wird es schwierig, sich im Jetzt zu situieren und einen halbwegs optimistischen Blick in die Zukunft zu richten.

Erstens: Klein ist schön. Ein Blick von oben auf das gegenüberliegende Dach eines ebenerdigen Hauses ländlichen Charakters in Floridsdorf - das Auge strich liebevoll die gesprenkelten Dachziegel entlang, auf eine Reise ins Gestern mitgenommen. Die Dachlandschaft minderte die Eintönigkeit der visuellen Umwelt (links und rechts stehen vier- und fünfstöckige Kästen aus den Nachkriegsjahren, bar jedes Schmuckes). Zwei Kastanienbäume ragten über das Dach hinaus, winkten im Frühjahr mit helllila Blüten und verführten uns dazu, uns in den heißesten Sommertagen unter ihre ausladenden Äste zu fantasieren.

Durchlässigkeiten

Die hässlichen Plakatwände (die keine leere Fläche Wiens mehr verschonen) können nicht davon ablenken, dass dies ein Haus war, von menschlicher Hand gebaut, für menschliche Zwecke imaginiert, welches eine Durchlässigkeit zwischen Innen- und Außenwelt, Natur und Kultur vorsah. Auf die können die Glastürme, mit ihrer fingierten Permeabilität und permanenten Klimatisierung, nur anspielen.

Diese kleinen Häuser verschwinden aus dem 21. und 22. Bezirk. Sie weichen Parkplätzen, wie in diesem Fall, oder mehrstöckigen Apartmentblocks, die keinen gewachsenen Bezug zur Straße und zu der sie umgebenden Architektur mehr aufweisen. Jedes Gebäude steht allein; die Architekten machen ihre Sache keineswegs immer schlecht, aber sie bauen oft, ohne das Umliegende in ihre Konzepte einzubeziehen. Was Paul Goldberger, Architekturkritiker des New Yorker, in seinem eminent lesenswerten Buch "Why Architecture Matters" (2009) schreibt, trifft auf diese neuen Anlagerungen zu.

Die Baumeister vergangener Jahrhunderte verfügten über eine Sprache des Mauerwerks, die aus dem Bewusstsein erwuchs, dass jedes Bauwerk, egal wie privat seine Funktion, eine öffentliche Anwesenheit hat, die dem Gebäude eine ethische Schuldigkeit auferlegte. Es hatte, schreibt Goldberger, eine Verpflichtung der Straße und allen gegenüber, die daran vorbeigingen, unabhängig davon, ob diese Menschen je durch das Portal treten würden.

In unserem individualistischen Zeitalter wurde dieser genealogische Vertrag aufgekündigt - bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein hielt man ihn ein - und nach 1968 hat sich der Drang zur architektonischen Selbstrealisierung verstärkt. Eine Fahrt mit der 26er- Straßenbahn entlang der Donaufelder Straße bis zur Josef-Baumann-Gasse zeigt deutlich, was aus einer solchen selbstsüchtigen Haltung entstehen kann. Die Betonierwut lässt keinen alten Stein auf dem anderen, und kein neuer "Stein" passt sich an den anderen an. Immobilienentwickler preisen das neue Wohnen an: Ein künstlicher Teich soll hier entstehen, der die verschwundenen Felder und Gärten vergessen macht.

Zweitens: Ethische Architektur. Gegenüber der Schnellbahn-Station Floridsdorf stand bis vor wenigen Jahren ein schönes Ensemble: ein dunkelgelbes Gymnasium aus der Gründerzeit, flankiert von einer Reihe von Wohnhäusern und einem Kindergarten der Stadt Wien im selben Stil.

Große Kastanien umgaben dieses Gymnasium, eine Wiese säumte es, und man konnte sich vorstellen, dass die Lehrer gerne hier unterrichteten und die Jugendlichen, die hier vorbei- und hineingehen mussten, ein Gefühl für die historische Gewachsenheit der Institution innerhalb eines größeren Kontextes bekamen. In langweiligen Unterrichtsstunden konnte ihr Blick ins Grüne schweifen, hinüber zu den Wohnungen, dann zurück ins dunkel-kühle Interieur, mit seinen Holzdielen und hohen Decken.

Solideres als Facebook

Es ist wahrscheinlich kühn, den Gebäuden selbst ein Innenleben zuzuschreiben, wie ich es hier getan habe. Es ist aber nicht kühn, sich vorzustellen, dass wir unsere auf die Community, auf Gemeinschaft und Gemeinschaftlichkeit, bezogenen Gefühle in einem immer flüchtiger werdenden Zeitalter an Soliderem aufhängen müssen als an Facebook-Gruppen.

Kein Geringerer als Winston Churchill hat über den Einfluss der Architektur auf die Menschen Triftiges gesagt: "There is no doubt whatever about the influence of architecture and structure upon human character and action. We make our buildings and afterwards they make us. " Im Berlin der Nachwendezeit darf man an der älteren Bausubstanz nichts verändern, was von der Straße aus zu sehen wäre; bei uns sind selbst die Fassaden von städtischen Biedermeier-Häusern im 7. Bezirk nicht vor Geschäftemachern sicher, um von den Dächern Wiens ganz zu schweigen. Sie werden rücksichtslos ausgebaut und verlieren dadurch den charakteristischen Charme.

Und die Wolkenkratzer und Big-Box-Stores: Jede Großstadt hat Hochhäuser im Zentrum und Shoppingcenter an der Peripherie, aber nicht jede hat eine solche historische Dachlandschaft, solche Wohn- und Einkaufsgegenden wie Wien. Wir sollten uns nicht davor fürchten, das scheinbar Unzeitgemäße zu beschützen. Wer nicht weiß, woraus er kommt, kann nicht wissen, wohin er geht. (DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.11.2010)