Andreas Obrecht, "ASHA und der doppelte Schritt". € 24,90 / 296 Seiten. Hora Verlag / Edition Marlitt, Sibiu 2010

 

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Andreas J. Obrecht ist einer der stillen Autoren im Land. Aber er ist einer, dessen Spuren zu folgen sich lohnt, weil er es versteht, seine intellektuelle Breite und Vielfalt mit jener Tiefe zu würzen, die im so weit verbreiteten literarischen Gemurmel zuweilen schmerzlich abgeht. Obrecht ist sowohl gelernter und lehrender Wissenschafter - ein Kulturanthropologe und weltgereister Feldforscher - als auch Literat. Und er schafft das Kunststück, weder da noch dort zu dilettieren.

Ganz im Gegenteil, wie sein jüngster, gerade eben erschienener Roman zeigt. In Asha und der doppelte Schritt erzählt Obrecht die Geschichte eines Wiener Journalisten, der für verschiedenste Medien - unter anderem häufig "für die lachsfarbene Zeitung" - von Krisenherd zu Krisenherd reist, von Kriegsschauplatz zu Kriegsschauplatz, um von dort aus der Welt über ihren eigenen Jammer zu erzählen. Eine brüchige Ruhe findet er auf der Karibikinsel Grenada, wo der Protagonist, Michael Steinert heißt er, sich ein Refugium hergerichtet hat. Und wo Obrecht selbst ein Jahr lang gelebt und geforscht hat, unter anderem intensiv zur dortigen Variante des Voodoo, dem Obeah-Kult. Nämliches tat er nicht nur dort, sondern auch in Südostasien, Ozeanien und Afrika. Obrecht greift also auf reichlich Orts-, Menschen- und Kulturkenntnis zurück, wenn er das Leben des Kriegsberichterstatters in das geografische Dreieck zwischen Wien, der Karibik und Westafrika hängt, wo es sich auf mysteriöse Weise mit dem 200 Jahre zuvor gelebten Leben von Asha verbindet, einem Mädchen aus den Urwäldern des senegambischen Casamance-Flusses, das von Sklavenjägern gefangen und in die karibische Hölle exportiert wurde.

Obrecht neigt ein wenig zum getragenen Ton. Aber als Schreiber ist er raffiniert genug, immer dann, wenn den Leser das Gefühl beschleichen will, jetzt fange der Autor allmählich zum Predigen an, das Tempo zu forcieren und die Handlung ins Rasante, zuweilen Groteske, zuweilen Gewalttätige zu drehen. Solcher Rhythmuswechsel ist dem Inhalt geschuldet und keine bloß formale Marotte. Obrecht geht es in diesem Roman ja auch oder vor allem darum, die europäische und die karibisch-westafrikanische Kultur zu konfrontieren; die Atem- also mit der Zeitlosigkeit, das Lineare der Geschichte mit der Kreisförmigkeit des Ahnenmysteriums.

Es entspricht der darin liegenden Erzähllogik, dass der Protagonist ein Theologie-affiner Mensch ist, dem in der Wiener Michaelerkirche genauso erstaunliche Erlebnisse zustoßen wie bei Mother Annie auf Grenada. Diese Obeah-Priesterin wurde nach der Revolution des Maurice Bishop 1979 zwar inhaftiert, aber nie angeklagt. Eine so bedeutende Magierin könne nicht vor Gericht gestellt werden. Denn werde sie verurteilt, gefährde dies das Leben der Geschworenen, werde sie aber freigesprochen, beuge die Magie die Rechtsprechung.

"Man konnte sich eben in der Karibik", schreibt Obrecht, "auch als Marxist und Revolutionär niemals sicher sein, wie weit der schwarzmagische Einfluss der Hexer wirklich geht."

Eine Sache, die auch der Schriftsteller Obrecht offenlässt. Und zwar nicht nur für sich und seinen Romanhelden, sondern auch für die Leser, die der Autor Schritt für Schritt - also doppelter Schritt für doppelten Schritt - zu der Einsicht leitet, dass alles, was in Europa der Fall ist, auch nicht viel mehr sein könnte als etwas Tünche, hinter der sich etwas ganz anderes, Urwüchsigeres verbirgt. Und sei es nur ein unbedeutendes Sklavenmädchen. Und die damit verbundene, bittere Erkenntnis, dass jeder der eigenen Schritte ein rätselhaftes Echo hat, das akustische Signal dafür, dass einem das eigene Leben irgendwie hinterher- oder voraneilt. (Wolfgang Weisgram/ DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.11.2010)