Florian Bieber forscht an der Universität Graz über interethnische Beziehungen, Minderheiten, Nationalismus und politische Systeme in Südosteuropa und ist Chefredakteur der Zeitschrift Nationalities Papers.

Bieber war von 2001 bis 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen (ECMI) in Sarajevo und Belgrad und war von 2006 bis 2010 Lecturer für osteuropäische Politik an der Universität Kent, Großbritannien.

Foto: Florian Bieber

Sie werden "die dritte Generation" genannt: Die zahlreichen autonomen Gruppen in Griechenland, die Namen tragen wie "Revolutionärer Kampf", "Sekte der Revolutionäre" oder "Konspiration der Zellen des Feuers". Die griechischen Behörden gehen derzeit davon aus, dass eine oder mehrere dieser links-autonomen Organisationen die an ausländische Vertretungen in Athen und ausländische Politiker adressierten Paketbomben verschickt haben. Wo diese neuen Gruppierungen ihren Ursprung haben und welche Gefahr von ihnen vermutlich ausgeht, erklärt der Politikwissenschafter Florian Bieber.

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derStandard.at: Griechische Ermittler haben am Dienstag fünf mutmaßliche Mitglieder der Organisation "Konspiration der Zellen des Feuers", einer der neuen radikalen Organisationen Griechenlands, die für die Bomben-Pakete verantwortlich sein sollen, verhaftet. Was kennzeichnet diese Gruppierungen?

Florian Bieber: Diese neuen Gruppierungen kommen aus einem ohnehin sehr gut organisierten anarchistischen Umfeld, greifen also auf eine Tradition zurück. In Griechenland gibt es stärkere anarchistische, terroristische und extreme Gruppierungen als in anderen Ländern Europas. Der Auslöser für die Entstehung solcher Gruppen war jener Zwischenfall vor zwei Jahren, bei dem ein Jugendlicher durch einen Polizisten gestorben ist.

derStandard.at: Ziel der Attacken waren ausländische Botschaften: Jene der Schweiz, Deutschlands, Bulgariens, Belgiens, Chiles und Russlands. Außerdem gingen Paketbomben an Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und den italienischen Premier Silvio Berlusconi. Sehen Sie zwischen diesen Zielen einen Zusammenhang?

Florian Bieber: In den entsprechenden Blogs und Internetforen der Szene wird ebenfalls über diese konfuse Zielsetzung diskutiert. Aber es gibt bestimmte Motive, die immer wieder auftauchen. Motive, die sich stark gegen rechts orientieren. Etwa gegen die Repression gegenüber Migranten - was erklären würde, warum manche der Ziele Politiker waren: Sarkozy mit seiner Politik der Ausweisung bulgarischer und rumänischer Roma, Merkel mit ihrer Aussage über das Ende des Multikulturalismus. Und Berlusconi sowieso, vor allem, wenn es um Vetternwirtschaft und Rechtspolitik geht.

derStandard.at: Und wie kann man die Auswahl der Botschaften verstehen? Wieso haben sie sich bespielsweise die Botschaften Chiles und Bulgariens ausgesucht?

Florian Bieber: Was die Länder betrifft, kann man nur spekulieren. Was Belgien angeht, könnte etwa das Verbot der Burka (das belgische Parlament hat Ende April als erstes europäisches Land ein Burka-Verbot beschlossen, Anm.) ein Grund gewesen sein. Bulgarien könnte aufgrund seiner Minderheitenpolitik ausgewählt worden sein. Ich glaube nicht, dass sich ein alles zusammenführendes Element, das die Ursache für die Auswahl der Ziele sein könnte, ausmachen lässt. Es könnte auch nur darum gehen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sich innerhalb einer Szene in der Vordergrund zu rücken.

derStandard.at: Ein griechischer Polizist sagte gegenüber der linksliberalen Athener Tageszeitung "Ta Nea", dass für die Konstruktion der Bomben auch die Kenntnisse eines Gymnasialschülers ausgereicht hätten. Wie ernst sollte man solche Aktionen nehmen? Und mit welchen Auswirkungen auf das öffentliche Leben in Griechenland konnten der oder die Täter rechnen?

Florian Bieber: Es ist ja nicht schwierig: Wenn man auf einschlägige Internetseiten geht, findet man schnell Anleitungen zum Bau von Molotov-Cocktails und Bomben. Aber nur weil die Bomben amateurhaft sind, heißt das nicht automatisch, dass solche Aktionen nicht erfolgreich sein können. Wahrscheinlich wird niemand wirklich davon ausgegangen sein, dass ein derartiges Paket auch tatsächlich bei Präsident Sarkozy ankommt. Aber immerhin haben sie erreicht, dass für zwei Tage die Auslieferung sämtlicher Post- und Paketsendungen von griechischen Flughäfen ins Ausland eingestellt wurde. Solche Aktionen können den Staat blockieren. Auch das kann als Erfolg gewertet werden.

Außerdem: Auch wenn die Bomben keinen ernsthaften Schaden bewirken, zeigen sie doch eine recht große Gewaltbereitschaft auf. Ernstzunehmende terroristische Organisationen sind oftmals aus derartigen amateurhaften Ursprüngen heraus entstanden. Entsprechend würde ich versuchen, die direkte Gefahr, die von ihnen ausgeht, nicht allzu sehr zu überschätzen, sie aber gleichzeitig auch nicht allzu sehr herunterzuspielen.

derStandard.at: Die Anschläge kommen just vor den Kommunalwahlen am Wochenende, die der sozialistische Premier Giorgos Papandreou zur Vertrauensabstimmung über seinen Sparkurs ausgerufen hat. Können sie als Antwort auf die griechische Politik und ihren Umgang mit der Schuldenkrise verstanden werden?

Florian Bieber: Der Protest gegen die Regierung ist sicherlich ein Teil der Bewegung. Die Sparpolitik und die wachsende Unzufriedenheit haben ihres dazu beigetragen, dass solche Bewegungen größeren Zulauf gefunden haben. Die vielen Demonstrationen gegen die Regierung und die steigende Ablehnung des Staates aufgrund der Wirtschaftskrise haben auch der anarchistischen Bewegung das Gefühl vermittelt, dass sie eine breitere Bevölkerung repräsentiert als nur extreme Randgruppen.

derStandard.at: Griechenland hat sich zwar erst spät, 1974, von dem faschistischen Regime der Obristen befreit, aber warum hat der Linksterrorismus dort länger überlebt als anderswo?

Florian Bieber: Einerseits gibt es eine viel stärkere Linke in Griechenland. Auf der anderen Seite wächst die Frustration vor allem unter den Jugendlichen, etwa wegen der Vetternwirtschaft und der Tatsache, dass die politische Landschaft nach wie vor von nur wenigen Familien bestimmt wird. Das macht es schwierig, eine Verbindung herzustellen zwischen der politischen Elite und der Gesellschaft. Hinzu kommen die soziale Unsicherheit und das Gefühl, dass der wirtschaftliche Wandel zurückbleibt. In Einzelbereichen geht zwar etwas weiter, aber nicht strukturell gesehen.

Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass das System keine Perspektiven mehr bietet. All das erzeugt das Gefühl, dass Griechenland zwar formal demokratisch ist, in Wirklichkeit aber doch ein sehr verschlossenes System ist. Das macht solchen Gruppierungen das Überleben einfacher und daher gibt es auch einen verhältnismäßig größeren Anteil der Bevölkerung, der eher bereit ist, sich mit radikaleren linken Ideen zu identifizieren als in anderen Ländern.

derStandard.at: Spanien, Italien, Deutschland, Griechenland: Linksextremer Terrorismus kam bisher vor allem in Gesellschaften vor, die zuvor rechtsextreme Diktaturen zu erleiden hatten. Warum sind diese Bewegungen bis heute so stark?

Florian Bieber: Diese Bewegungen sind gerade in solchen Ländern als Opposition gegen sehr rechtsorientierte Politik und Regime entstanden. Die größte linksextreme Bewegung in Griechenland, die Untergrundgruppe "17. November", hat sich nach der blutigen Niederschlagung einer Studentendemonstration durch das Regime benannt. Das war eine der größten Terrororganisationen Europas, die mit der RAF (Rote Armee Fraktion, Anm.) in Deutschland und den Roten Brigaden in Italien zusammengearbeitet hat, die bis Anfang des vergangenen Jahrzehnts sehr aktiv war (die griechische Regierung geht davon aus, dass Abspaltungen der "Revolutionäre Organisation 17. November" noch immer aktiv sind, Anm.).

Ob die griechische "17. November", die spanische ETA (Euskadi Ta Askatasuna, baskisch für Baskenland und Freiheit, Anm.), die zuerst gegen das Franco-Regime und anschließend gegen das demokratische Spanien gekämpft hat, oder die RAF, die aus sozialen Bewegungen stammte und ursprünglich durchaus legitime Kritik an der Gesellschaft geübt, sich dann aber derart radikalisiert hat, dass sie völlig verfehlt zur Gewalt griff: Oft ist es in solchen Bewegungen der Fall, dass sozusagen der Kompass verloren geht, der sich zunächst einmal gegen die Bedrohung gewandt hat.

derStandard.at: Der italienische Innenminister Robert Maroni möchte nach der Entdeckung der an Berlusconi adressierten Paketbombe italienische Anarchisten als Urheber nicht ausschließen, weil die Verbindungen zwischen der italienischen und der griechischen Anarcho-Szene "bekannt" seien. Wie international agieren linksextreme Organisationen heute?

Florian Bieber: Vor wenigen Jahren beispielsweise haben Serben die griechische Botschaft in Belgrad als Reaktion auf die Ausschreitungen in Griechenland angegriffen. Derartige Kooperationen oder Solidaritätsaktionen gibt es über Landesgrenzen hinaus schon. Doch letztendlich unterscheiden sich die jeweiligen Ziele oft und haben nationalen Bezug. Außerhalb von Griechenland sind die Bewegungen weitaus schlechter organisiert und weniger einflussreich. Ich glaube nicht, dass Organisationen aus dem Ausland unbedingt mit den griechischen kooperieren wollen - eher haben sie eine Art Vorbildwirkung. (fin, derStandard.at, 3.11.2010)