Barcelona/London - Sollte die Katastrophe tatsächlich eintreten, dann müssen wir uns in Europa künftig warm anziehen. Die Rede ist von einer Abschwächung oder dem Totalausfall des Golfstroms, der Nordeuropa wie eine Zentralheizung mit der Energie von umgerechnet rund einer halben Million Atomkraftwerken versorgt.

Das Worst-Case-Szenario hat es sogar zu Filmehren gebracht: Hollywood-Regisseur Roland Emerich hat daraus seinen Frost-Thriller The Day after Tomorrow gestrickt. Und in Al Gores Klimawandel-Doku Eine unbequeme Wahrheit werden dem möglichen Ende des Golfstroms auch einige Minuten gewidmet.

"Das Hollywood-Modell ist zwar überzeichnet, doch es liegt nicht fernab wissenschaftlicher Modelle", sagt César Negre von der Autonomen Universität Barcelona im Gespräch mit dem STANDARD: "Klimaveränderungen sind etwas völlig Normales." Der Nachwuchsforscher kann aber nicht sagen, wann und wie abrupt dies geschehen wird.

Alarmistischen Thesen gegenüber ist der frischgebackene Doktor, der die Ergebnisse seiner Dissertation in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Nature" (Bd. 468, S. 84) veröffentlichen konnte, allerdings skeptisch: "Wenn das gesamte arktische Polareis verschwindet, würde sich der Golfstrom maximal verlangsamen."

Schwächelnder Golfstrom

Negre fand nämlich heraus, dass dieser auch vor 20.000 Jahren strömte, als die polaren Eiskappen ihr bisher letztes Maximum erreichten. Der Golfstrom sei nur weit schwächer gewesen, während das Nordatlantische Tiefenwasser, eine wichtige Teilstrecke jenes "globalen Förderbandes" der Meereszirkulation, den Rückwärtsgang einlegte.

Negre hat dafür Sedimente eines Bohrkerns aus dem Südatlantik analysiert, den man aus 2.440 Metern Tiefe hob. Die Daten wurden mit vorangegangen Studien sowie aktuellen Daten aus dem Nordatlantik verglichen. Diese Resultate legen nahe, dass Meeresströmungen, wie wir sie in Europa heute kennen, vor etwa 10.000 Jahren entwickelten.

Dieser Kreislauf bewegt enorme Wassermassen und ist bekanntermaßen essenziell für das Erdklima. In tropischen Breiten durch die Sonne aufgewärmtes Oberflächenwasser strömt etwa als Golfstrom nordwärts, was unseren Breiten ihre Lebensfreundlichkeit verleiht. Salzgehalt und Temperatur beeinflussen die Dichte des Wassers: Wird es salziger und kälter, sinkt es - auch mit Kohlendioxid angereichert - in die Tiefe und nimmt gemächlich Kurs auf den Äquator.

Knapp tausend Jahre lang bleibt es in den Tiefen, bis es im indischen Ozean wieder aufsteigt. Verdunstung, Erdrotation und Winde spielen dabei ebenso eine Rolle, wie auch geschmolzenes Süßwasser polarer Gletscher.

Aktuelle Klimaprognosen müssten Erkenntnisse der Paläoklimatologen berücksichtigen "um exakter zu werden", sagt Negre: "Wir vergleichen Jahrhunderte, aktuelle Studien meist nur Dekaden." Sein Team will nun weitere Bohrkerndaten sammeln und vergleichen, um ein globales Bild des einstigen Strömungskreislaufs zu bekommen. (jam/DER STANDARD, Printausgabe, 4. 11. 2010)