Ein Plädoyer für das Österreichische Deutsch - und für die Mehrsprachigkeit. In seiner Forschungsstelle in Graz erforscht Rudolf Muhr die sprachlichen Verhältnisse in Österreich.

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Gudrun Harrer sprach darüber mit dem Sprachwissenschafter Rudolf Muhr.

Standard: Wenn man – wie ich als Journalistin – die Verdrängung des Österreichischen Deutsch thematisiert, gilt man schnell als Sprachchauvinist oder Provinzler. Helfen Sie mir mit einem Argument dafür, warum das ungerecht ist.

Muhr: Warum sollte die Betonung des Eigenen chauvinistisch sein? Das ist nur möglich in einem Land, das sich mit einem anderen Land eine Sprache teilt und ein unterentwickeltes sprachliches Selbstbewusstsein hat. Würde es einem Deutschen passieren, dass man ihm im eigenen Land vorwirft, er sei ein Chauvinist, wenn er seine eigenen sprachlichen Normen verwendet?

Das ist die Auswirkung des "linguistic cringe" , der linguistischen Kriecherei. Eine Überanpassung der Leute, die gern so sein möchten wie die Großen. Denn klein ist schlecht, weil es im Verdacht steht, sozial niedrig zu sein. Wenn ich auf meinen Normen bestehe, dann bestehe ich auf meiner eigenen Identität. Und wenn ich – in der Zeit des fortgeschrittenen Kapitalismus, wo ich mich ständig anpassen muss und immer das bin, was ich gerade angezogen habe – mir etwas Heimisches anziehe, dann bin ich natürlich altmodisch. Und vor allem bin ich nicht an das Große angepasst. Jeder möchte finanziell, sozial und sonst wie am Großen teilnehmen.

Dazu kommt in Österreich noch die spezielle Spaltung der Eliten: Da sind die einen, die Trachtenträger, und da sind die anderen, die das ins Nazi-Eck rücken. Das heißt, es gibt keinen Konsens in der Elite, was österreichische Identität ist.

Standard: Der Vorwurf steht im Raum, dass das Eigene das Innovative ausschließt.

Muhr: Das Eigene ist das, was die Leute kennen und normalerweise verwenden. Wenn das Eigene verdrängt wird, gerät ein guter Teil der Bevölkerung ins Hintertreffen und findet sich plötzlich in der eigenen Sprache nicht mehr wieder. Wer die eigene Sprache aufgibt, erleidet einen Verlust. Gleichzeitig soll niemand sagen "nur meine eigene Sprache ist gut, ich lerne keine andere" . Man kann kommunikativ offen sein, ohne das Eigene als überflüssig, schlecht und provinziell zu empfinden. Seit wann ist denn die Sprache eines Landes provinziell?

Standard: Die übliche Antwort ist: Das ist alles "Dialekt" .

Muhr: Sprachgeschichtlich war jede Sprache einmal ein Dialekt. Es geht gar nicht anders. Indem sich ein Teil abspaltet und sagt "Wir sind etwas Eigenes" , kommt es zu einer eigenen Sprache. Schauen Sie sich das Luxemburgische an. Die ersten Schritte wurden in den 1950er-Jahren gesetzt, und 1984 wurde es zur eigenen Landessprache gemacht. Gleichzeitig sind Französisch und Deutsch Landessprachen, das ist kein Widerspruch, sondern Zeichen von Weltoffenheit bei gleichzeitiger Selbstständigkeit.

Die Sprache dieses Landes hier ist nicht Deutsch, sondern Österreichisches Deutsch, groß geschrieben, denn das ist ein Eigenname. Würden wir unsere gesprochene Sprache verschriften und die Kinder damit einschulen, wäre das Ergebnis eine Bildungsexplosion. Viele Kinder, die heute Probleme mit dem Übergang von der gesprochenen Sprache zur Schriftsprache haben – dazu kommen die Schwierigkeiten der derzeitigen Orthografie -, würden dann viel leichter in die Schriftsprache hineinkommen.

Standard: Das wäre im Grunde der Beginn einer Mehrsprachigkeit.

Muhr: Richtig. Das einzige Konzept, das den Widerspruch zwischen sich selbst sein und offen sein auflöst, ist die Mehrsprachigkeit. Das heißt, genauso wie ich meinen Kasten aufmache und verschiedenes Gewand drinnen habe, habe ich verschiedene Sprachen in meinem Repertoire, die ich verwende, wie ich sie brauche.

Aber das große Problem in Österreich ist, dass Sprache als Aussonderungssystem verwendet wird und diejenigen, die nicht die richtige Sprache können, keine Chance haben. Das ist, meine ich, auch einer der Gründe für unsere Unsicherheit gegenüber Ausländern. Bei meiner Lehrveranstaltung auf der Pädagogik wurde diese Salzburger Schule erwähnt, die den Zuwandererkindern verboten hat, im Schulhof in ihren eigenen Sprachen zu reden. Da kann man nur sagen: "Das ist der Aufstand der Blöden." Das können Sie ruhig schreiben! Es sollen alle so wenig können wie die Einsprachigen, an deren Niveau sich die anderen anpassen sollen.

Standard: Deutsch definiert sich ja als plurizentrische Sprache mit mehreren Varietäten. Wie ist das bei anderen plurizentrischen Sprachen, unterwerfen sich da auch die kleineren Varietäten so willig?

Muhr: Wir haben eine internationale Arbeitsgruppe gegründet, um die Phänomene, die es in nichtdominierenden Varietäten plurizentrischer Sprachen gibt, zu untersuchen. Die Probleme sind ähnlich, aber nicht gleich. Die Flamen mit den Niederländern, die Wallonen mit den Franzosen, die Iren mit den Engländern: Da gibt es Parallelen. Völlig anders ist es bei den Finnlandschweden, die kennen die Probleme, die wir haben, in diesem Ausmaß nicht, ihre Sprache ist sehr prestigereich. Nächstes Jahr werden wir dazu eine Tagung in Graz machen.

Standard: Noch eine andere Dimension: Es ist ja nicht einfach deutschländisches Deutsch, das da um sich greift, es ist eine künstliche Werbe- oder Mediensprache.

Muhr: Völlig richtig, die deutschen Kollegen sagen mir immer: "Wir sprechen ja auch nicht so wie die im Fernsehen!" Sie selbst wissen das, aber für die Österreicher, die das nicht beurteilen können, hört es sich so an, als wäre das die höchste Norm.

Standard: Also ein sprachlicher Minderwertigkeitskomplex.

Muhr: Genau. Wir werden von dieser ökonomischen und medialen Macht einfach überrollt. Der Angleichungsprozess durch Fernsehen und Radio und andere Medien ist so stark, dass man von einem Sprachwechsel reden muss. Nicht Sprachwandel, das ist Sprachwechsel – die eine Sprachform ausgetauscht gegen eine andere. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 3. 11. 2010)

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Anderes Deutsch

Die 1996 gegründete Forschungsstelle Österreichisches Deutsch (FÖDT) (bis 2004 "Projekt Österreichisches Deutsch" ) ist eine wissenschaftliche Einrichtung, die dem Zentrum für Plurilingualismus der Karl-Franzens-Universität Graz angeschlossen ist. Die FÖDT erforscht das Österreichische Deutsch und die sprachlichen Verhältnisse in Österreich – unter Berücksichtigung der Minderheitensprachen und der Sprachen der Zuwanderer. Ein Ziel ist es, das Ansehen des Österreichischen Deutsch zu fördern. Botschaft: Österreichisches Deutsch ist kein schlechteres, sondern ein anderes Deutsch als das Deutschländische Deutsch. (guha/DER STANDARD, Printausgabe, 3. 11. 2010)