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Früh von unverbindlicher Entrüstung und Sorglosigkeit "geheilt": Harry Mulisch.

Foto: EPA/ROBIN UTRECHT

Amsterdam/ Wien - Er selbst und alles, was er je geschrieben habe, sei ohne Hitler undenkbar, sagte Harry Mulisch einmal in einem Interview. Und in der Tat ziehen sich der Zweite Weltkrieg und Themen wie Schuld und Sühne, Gut und Böse, Opfer und Täter wie ein roter oder brauner (wie ein Rezensent schrieb) Faden durch das Werk dieses Autors.

Der Krieg begann für den am 29. Juli 1927 als Harry Kurt Victor Mulisch in Haarlem als einziger Sohn des Bankiers Karl Victor Mulisch und der belgischen Jüdin Alice Schwarz geborenen Schriftsteller mit zwölf - und mit einem Ausruf seines Kindermädchens: "Krieg! Herr Mulisch! Es ist Krieg! Die Deutschen sind da!"

Der Vater, ein ehemaliger k. u. k. Offizier, der in die Niederlande emigriert war und sich 1936 von seiner Frau hatte scheiden lassen, wurde in der Besatzungszeit Personalchef der Amsterdamer Liro Bank, die konfisziertes jüdisches Vermögen verwaltete. Eine Position, die es ihm zwar ermöglichte, Sohn und Exfrau, nicht aber deren Mutter und Großmutter, die im KZ ermordet wurden, vor der Deportation schützen.

Harry Mulisch, der gern Forscher und "eigentlich nie Schriftsteller werden wollte", verließ 1945, kurz nach dem Krieg - der Vater wurde als Kollaborateur drei Jahre interniert - das christliche Lyzeum ohne Abschluss. Seine stupende Bildung erwarb er sich als Autodidakt, das Geld zum Leben verdiente er als Mitarbeiter von Zeitschriften. Als zweifach - von der Opfer- und Täterseite - Betroffener berichtete er 1961 vom Eichmann-Prozess in Jerusalem. Eichmann, schrieb Mulisch in seinem Buch Strafsache 40/61 (1962), habe ihn "von unverbindlicher Entrüstung, doch auch von Sorglosigkeit" geheilt.

Später wird Mulisch Albert Speer in Heidelberg treffen, über die Zerstörung Dresdens schreiben und sich gegen den kalten Krieg, aber für die 68er-Studentenrevolte engagieren. 2002 macht er sich unbeliebt, als er den ermordeten niederländischen Populisten Pim Fortuyn in Schutz nahm.

Daneben schrieb er zahlreiche Romane, Essays, Reportagen, Dramen und Gedichtbände, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden. Auf den großen Erfolg musste Mulisch hingegen lang warten. Erst mit dem Buch Das Attentat (1982) - über die Folgen, die der Mord an einem Kollaborateur für Unschuldige hat - und dem großen niederländischen Gesellschaftspanorama Die Entdeckung des Himmels (1992), das von der biografischen Verknüpfung zweier Männer, Schicksal und den zehn Geboten handelt, schaffte er den endgültigen Durchbruch.

Sein letzter Roman Siegfried (2001) um den fiktiven Sohn Hitlers spielt in Wien. "Vielleicht", heißt es da, "ist Fiktion das einzige Netz, in dem er (Hitler) gefangen werden kann." Der Roman wurde von der Kritik, nicht aber vom Publikum abgelehnt. Lange vorher hatte Josef Haslinger darauf hingewiesen, dass Mulisch nicht nur durch den Vater, sondern auch über die Auseinandersetzung mit Hitler und Eichmann österreichische Themen bearbeitet. "Nur Österreicher", so Haslinger, "können verstehen, was Mulisch sagt, indem er es nicht sagt." (Stefan Gmünder, DER STANDARD/Printausgabe 2.11.2010)