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"Quo vadis Europa?": Jean-Luc Godard durchmisst in seinem "Film Socialisme" das lange 20. Jahrhundert.

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Verschlüsselung von Erfahrungen: Eine Kleinunternehmerfamilie als Widerstandszelle und Athen als Geburtsort von Demokratie und Tragödie.

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"Ich begreife nichts", sagt ein älterer Herr namens Otto Goldberg, ein Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff in Jean-Luc Godards Film Socialisme . Das Schiff ist unterwegs im Mittelmeer, es durchquert einen uralten kulturellen und politischen Raum (das "mare nostrum" - unser Meer), und es durchquert dabei auch den historischen Zeitraum, der mit dem des Kinos weitgehend identisch ist - das lange 20. Jahrhundert, das schon im 19. mit der Erfindung der Fotografie begann und das im 21. Jahrhundert mit den vielen digitalen Formaten weitergeht, die in Film Socialisme auftauchen.

Es gibt sehr vieles zu sehen und zu hören in diesem Film, aber es gibt kaum etwas, das sich leicht begreifen ließe. Das beginnt schon damit, dass nicht sonderlich klar ist, wer dieser Otto Goldberg eigentlich ist, der von einem Jungen auf Deck zwischendurch als SS-Obersturmbannführer angesprochen wird, der aber nie so weit in das Zentrum einer Erzählung rückt, dass man sich ihm als einer Figur wirklich nähern könnte.

Dieses Unbegreifliche an der Welt ist schon seit einiger Zeit die Grundbedingung von Godards Arbeiten mit Film und Video. Er stellt im Grunde nur noch Dinge in den Raum, und lässt sie aufeinander wirken, sodass daraus ein Zusammenhang von Fragen entsteht, die wie eine Aktualisierung der berühmten Fragen eines lesenden Arbeiters bei Brecht wirken. Diese zielten noch auf Entschlüsselung von Ideologie, während es in Film Socialisme um Verschlüsselung von Erfahrungen mit Ideologie geht. Godard stellt filmisch die Fragen eines lesenden Geistesarbeiters, er interessiert sich für den Verbleib der Goldreserven von Palästina oder Spanien, und an einer der wenigen als zentral erkennbaren Stellen in Film Socialisme stellt er seine klare Frage: Quo vadis Europa?

Kreuzfahrträtsel

Man muss schon eine besondere Position einnehmen, um das so formulieren zu können, aber der bald 80-jährige Eremit des Kinos, der von einem Schweizer Dorf aus sein universalhistorisches Amt versieht, hat sich den Umfang dieser Fragestellung gründlich erarbeitet. Er nennt dann sechs Orte, von denen aus er eine Antwort auf die Frage nach dem Weg Europas zu geben versucht: Ägypten, Palästina, Odessa, Hellas, Neapel, Barcelona. Es sind alles Orte, die auf der Route des Kreuzfahrtschiffs liegen, das den ganzen ersten Teil des Film Socialisme hindurch unterwegs ist. Es führt eine ganze Weltgesellschaft mit sich, Passagiere aus allen Ländern, Personal aus Asien, einen Priester für die Gläubigen, und ein paar Intellektuelle für Menschen, für die das Schiff eine Akademie ist.

Der Philosoph Alain Badiou und der frankopalästinensische Intellektuelle Elias Sanbar sind an Bord und geben manchmal sinnloses Zeug von sich, sinnlos und unbegreiflich, weil der Kontext fehlt, manchmal aber auch wichtige Informationen, die einen Kontext ergeben, den Film Socialisme wiederum nur andeuten kann.

Dieser Kontext ist jenes Europa, das mit der Idee der Humanität identisch ist und zugleich immer wieder so barbarisch von ihr abgefallen. In Barcelona, wo Freiwillige aus aller Welt schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs gegen die Faschisten kämpften, findet sich dabei ebenso wie in Odessa, wo der Kommunismus eine seiner Urszenen fand, das Motiv des Filmtitels: Was war das eigentlich, diese Idee eines Sozialismus, der nicht auf Konkurrenz und Profit setzte, sondern auf Vergemeinschaftung und Auskömmlichkeit? Godard zeigt von dieser Idee nur die Fetzen, die im Wind hängen, er zeigt das klapprige Floß, das auf den Wellen treibt (und von dem vielleicht verdurstete afrikanische Menschen ins Wasser gefallen sind, die nach Europa wollten).

Godard kämpft in Film Socialisme noch einmal mit der Versuchung des Posthistorischen. Diese besteht darin, nur noch das Meer des Geschehenen befahren zu wollen, manchmal an einem Ort mit Bedeutung anzulegen, dabei aber vollständig von aller Hoffnung auf Zukunft, auf etwas Neues abzusehen. Die Geschichte ist das, was gewesen ist, und die Zukunft wird das bringen, was die Vergangenheit schon brachte.

Dem steht die revolutionäre Perspektive entgegen, die der Sozialismus in die Welt brachte - das Projekt eines qualitativen Umschlags. Godard widmet diesem Projekt die zweiten Hälfte seines Films, der in der Mitte umstandslos die Szene wechselt und danach bei einer französischen Familie ist, die eine Tankstelle betreibt und bei der das Team eines französischen Regionalfernsehsenders eine Realityshow dreht.

Diese vier Menschen (Vater, Mutter, Tochter, Sohn) sprechen wie die Menschen auf dem Schiff in erster Linie wie Platzhalter von Ideen. Aber es gibt hier Momente nicht nur genuiner Reflexion, sondern auch von Zusammenhalt in einer Situation, in der es um das Überleben des kleinen Betriebs geht und um die Frage, wie man weitermachen soll mit der Familie Martin. Godard inszeniert auch diese zweite Geschichte des Film Socialisme als eine Ansammlung von Bedeutungsfetzen, aber er lässt am Ende erkennen, dass er dieses Modell des Familiären zu universalisieren bereit ist: Die Martins sind so etwas wie eine Widerstandszelle, ein Faktor der résistance, der sich nicht zuletzt gegen den Traum des Staates wendet: "Der Traum des Staates ist, allein zu sein", greift Godard einen Topos auf, der ihm immer schon wichtig war. Vater Martin entgegnet lakonisch: "On est quatre, wir sind vier."

Kommunikatives Handeln

Auf diese Seite schlägt sich der Film Socialisme in der einzigen Parteinahme, die inmitten des distanzierten Zeichengeschehens erkennbar wird: Die medial ausgebeutete Unternehmerfamilie wird auf der Ebene des Kinos, auf der Godard operiert, zu einer Handlungsmacht, die sich als solche dadurch konstituiert, dass sie untereinander im Gespräch bleibt. Die Zeichnungen des Jungen bekommen dadurch unwillkürlich die Qualitäten eines Renoir, und zumindest an dieser Stelle verzeichnet Godard einen qualitativen Umschlag, und keineswegs nur einen ästhetischen.

Film Socialisme endet mit einer Theorie filmischer Bedeutung, die noch einmal als eine Konzession an die Sinnpartikel erscheint, die auf dem Meer des Gewesenen treiben. Aber da ist schon klar, dass Film noch immer ein Medium des Sozialimus sein kann, das Medium einer Passage durch das Unbegreifliche der Humanität, an deren Ende alles möglich ist. (Bert Rebhandl, DER STANDARD - Printausgabe, 30./31. Oktober/1. November 2010)