Brügge zeitgenössisch: Der Ballon des polnischen Künstlers Pawel Althamer lockt zum "Blick auf Zentraleuropa".

Foto: Sarah Bauwens

Brügge klassisch: Anonieme Meesters, "Portret van een vrouw" in der Schau "Van Eyck bis Dürer".

Foto: Museo Thyssen-Bornemisza Madrid

Verwinkelte, kopfsteingepflasterte Gassen, mittelalterliche, wie vom Zuckerbäcker gegossene Häuserfassaden, Kanäle, auf denen Schwäne und Enten neben Touristenbooten schaukeln. Die Unesco erklärte Brügge 2000 zum Weltkulturerbe. Nur 20.000 Menschen leben permanent hier, doch drei Millionen Touristen besuchen jährlich dieses charmante Open-Air-Museum. In den kommenden Monaten sollten es merklich mehr werden.

Alle fünf Jahre ist Brügge Schauplatz eines Kunst- und Kulturfestivals. Diesjähriges Motto ist Brügge Zentral, die Stadt präsentiert sich als Schnittpunkt von Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit, Provokation und Harmonie. Sechs Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung, ein Gutteil fließt in zwei Großausstellungen. Van Eyck bis Dürer wurde gestern im Groeningenmuseum eröffnet; seit Anfang der Woche schon kann man an fünf Orten einen Blick auf Zentraleuropa und dessen aktuelles Kunstschaffen werfen.

Wie sehr europäische Künstler einander befruchtet, beeinflusst haben, steht im Focus beider Ausstellungen, so unterschiedlich die Epochen, so verschieden die Ausstellungskonzeptionen sind.

Am Ende des Mittelalters war Brügge eine der reichsten Städte Nordeuropas, ideal gelegen an der Nord-Süd-Handelsroute. Das wussten auch die Medici zu schätzen und wählten Brügge als Zweitwohnsitz. Kunst wurde zum Exportgut, das Handels- und Bankenzentrum auch zum Mittelpunkt einer epocheprägenden Kunst-Avantgarde.

Die "Flämischen Primitiven" , die Brüder Hubert und Jan van Eyck oder Rogier van der Weyden wurden europaweit studiert und kopiert: der betörende Realismus, die detaillierte Wiedergabe von Interieurs, die minutiös gemalten Accessoires, das raffinierte Spiel von Licht und Schatten, der exakte Faltenwurf, die sogenannten empirischen Perspektiven, die - im Gegensatz zur Zentralperspektive der italienischen Renaissance - nicht mathematischen und geometrischen Gesetzen folgten.

Dicht an dicht dokumentieren im Groeningenmuseum Gemälde, Altarbilder, Zeichnungen, Miniaturen, Stiche und Skulpturen Wechselwirkungen zwischen flämischer und mitteleuropäischer Kunst. Abgesehen von Dürers Besuch in Flandern gibt es kaum Belege dafür, ob, wann und wohin Künstler damals reisten. Doch die Kunstwerke erzählen von Austausch und Einfluss, von Bewunderung, Adaption und künstlerischer Assimilation.

Keine leichte Kost, die Kurator Till-Holger Borchert aus 80 Sammlungen aus der ganzen Welt nach Brügge holte. Werke bekannter Künstler wie etwa Hans Memling, Veit Stoss, Stephan Lochner, Holbein, Rogier van der Weyden, aber auch die anonymer Meister.

Sie standen an Brillanz und technischem Können ihren berühmten Kollegen um nichts nach. Als Beispiel für viele mag die schaurig genaue Beschneidung Christi vom Meister des Tucher Altars aus dem Jahr 1430 gelten.

Van Eyck und Dürer sind verlässliche Zugpferde, 150.000 Besucher mehr als sonst soll diese kunsthistorische Schau anlocken. Nicht wenige werden allerdings enttäuscht sein: In dieser malerischen Rundreise durch das Europa des 15. und 16. Jahrhunderts sind ausgerechnet von van Eyck gerade einmal drei Werke ausgestellt. Er wollte, so Borchert, der im Jahr 2002 Das Jahrhundert von van Eyck kuratiert hatte, dem lokalen Publikum nicht immer das Gleiche zeigen.

Kunstparcours durch Brügge

Nicht immer das Gleiche erwartet Einheimische wie Touristen auf dem Kunstparcours, den der belgische Künstler und Kurator Luc Tuymans mit Blick auf Zentraleuropa quer durch Brügge gelegt hat: vom Concertgebouw über Arentshuis, Sint-Jan-Hospitaalmuseum und Stadshallen bis zum Grootseminarie. Auch Tuymans mischt prominente Künstler, etwa Isa Genzken, Sigmar Polke und Gerhard Richter, mit weitgehend unbekannten.

Allerdings ist nicht immer klar, nach welchen Kriterien, außer der osteuropäischen Herkunft, Tuymans seine Auswahl getroffen hat; am ehesten ist sie bei jenen nachvollziehbar, die Krieg, Diktatur, gesellschaftliche Um- und Aufbrüche thematisieren: So wie der 1957 verstorbene und außerhalb Polens unbekannte Maler Andrzej Wroblewski, der als Jugendlicher zusehen musste, wie sein Vater von den Nazis erschossen wurde. Davon erzählt er in Execution.

Um die Bevölkerung darauf einzustimmen, was sie zu erwarten hat, ließ Tuymans vor Ausstellungsbeginn einen Fesselballon in Form eines überdimensionierten, splitternackten Mannes über der Stadt schweben; nun hängt das Selbstporträt des polnischen Künstlers Pawel Althamer unterm Dach des Sint-Jan-Hospitaalmuseums. (Andrea Schurian, DER STANDARD - Printausgabe, 30./31. Oktober/1. November 2010)