Wien - Einst hieß es, Thomas Muster würde das Netz nur zum Schütteln der gegnerischen Hand aufsuchen. Und selbst dann hätte er die Grundlinie nur recht widerwillig verlassen. Elf Jahre später musste Muster schon früher zum Vorwärtsgang ansetzen. Nicht nur weil sich Andreas Haider-Maurer die Beine des 43-Jährigen genauer ansehen wollte und den ein oder anderen Stopp einstreute - was von so manchem Zuseher als Beleidigung seiner Majestät aufgefasst und mit Pfiffen quittiert wurde -, nein, es waren diesmal auch spielerische Varianten gefragt, denn bis zu Beginn des zweiten Satzes hatte Haider-Maurer von der Grundlinie dominiert.

Beim Stand von 2:2 und 0:40 stürmte Muster also ans Netz. Ein Comeback im Comeback war die Folge: Muster gewann den Punkt, das Game und war fortan im Spiel. Das Publikum reagierte euphorisiert, viele mochten sich in diesen Momenten an alte Zeiten zurückerinnern, als das Unmögliche phasenweise zur Normalität verkam. Und damit ist nicht der Triumph von Roland Garros gemeint, den hatte man ihm immer zugetraut. Vielmehr war es die Art und Weise des Siegens, die sich im Gedächtnis der Tennis-Fans tief verankert hat: Muster musste 1995 insgesamt 13 Matchbälle abwehren, um fünf seiner zwölf Titel zu gewinnen, nämlich in Barcelona, Monte Carlo, St. Pölten, Stuttgart und Umag. Aufgegeben wurde ein Brief und Muster war auf Sand unschlagbar. 

Es waren aber auch die unerwarteten Erfolge auf extraterritorialem Boden, also jedem nicht körnigen Belag, die aus Muster den heimischen Inbegriff des Glaubens an die eigene Stärke werden ließen. Mit dem besten Tennis seiner Karriere bezwang er 1995 Pete Sampras in der Halle von Essen, stieß 1996 beim traditionsreichen Rasenturnier im Queen's Club ins Halbfinale vor, unterlag dort erst dem großen Stefan Edberg in drei Sätzen und gewann 1997 das topbesetzte Hartplatz-Turnier von Key Biscane. Mit dem Willen sich über eigene Schwächen hinwegzusetzen, inspirierte Muster selbst Sportler fernab der Tennisplätze, so war es zum Beispiel der olympisch vergoldete Gewichtheber Matthias Steiner, der wissen ließ: "Schon als Kind hat es mich beeindruckt, wie Thomas Muster mit einem Kreuzbandriss im Liegegips Tennis gespielt hat."

Wenn Thomas Muster im Alter von 43 Jahren nun also wieder den Court betritt, dann ist dies das Nähren neuer Träume, dann ist er der Balboa der Filzkugel. Wie genau diese Träume, diese Ziele aussehen, will Muster nicht genauer definieren, das darf jeder Fan nach Belieben interpretieren. Dabei ist natürlich Vorsicht geboten, denn das Alter und die Grenzen des Körpers sind im Gegensatz zu dem ihm früher unterstellten Mangel an Talent ("Der Horst ist viel begabter...") Größen, die im Profisport einfach nicht vernachlässigbar sind. Muster weiß das natürlich, und vermutlich gibt es trotz seines legendären Willens kaum noch einen Weg, aber der scheint dafür diesmal Ziel zu sein. Das Publikum in Wien dankte es schon jetzt. (Philip Bauer; derStandard.at; 26. Oktober 2010)