Mira Kadric: Zuwanderer tragen die Gesellschaft längst.

Foto: privat

Nicht die Zahl der Zuwanderer ist das Problem, sondern falsche Toleranz – wir haben die Grundwerte aus den Augen verloren.

Die Abschiebung von achtjährigen Zwillingen ohne ihre kranke Mutter hat die Debatte über Asyl, Integration und Fremdenpolitik wieder in Gang gebracht. Dabei setzen sich – längst überfällig – in der öffentlichen Meinung neue Forderungen durch: nach einem generellen humanitären Bleiberecht für alle, die seit Jahren im Land sind; nach einer Humanisierung der in den letzten Jahren kopf- und herzlos gebastelten Fremdengesetze und letztlich nach einem menschlichen Gesetzesvollzug.

Wenn Politiker jahrelang Asylwerbende und Fremde in Verbindung mit Kriminalität bringen, darf man sich nicht wundern, dass das Gefühl erweckt wird, um uns herum existierten gefährliche Parallelgesellschaften.

Parallelgesellschaften sind gefährlich – sind sie das wirklich? Leben ex-jugoslawische, türkische und österreichische Familien in Parallelgesellschaften? Lebt nicht vielmehr Karl-Heinz Grasser mit seinen Freunden in einer Parallelgesellschaft zum langzeitarbeitslosen 55-jährigen Wiener Bauarbeiter? Und die Kinder einer Hietzinger Bürgerfamilie, die in die Vienna International School gehen und ihre Sommerabende auf dem Badeschiff verbringen. Was verbindet die mit einem Tiroler Bergbauernkind? Der gut verdienende Werbefachmann, der am Abend gern zu Fabios geht, den Samstagvormittag Austern essend am Naschmarkt verbringt, der zum Weihnachtsshoppen nach New York fliegt, was hat der mit der Alleinerzieherin und Notstandshilfebezieherin am Rennbahnweg gemeinsam? Sind das nicht allesamt Parallelwelten, die eine Gesellschaft aushält? Und die auch eine Buntheit bedeuten, die attraktiv macht?

Welche Städte gelten denn als anziehend? – New York, Berlin, Barcelona, Paris – allesamt Metropolen, die ethnisch, gesellschaftlich, kulturell bunt sind. Der Aufschwung Wiens von der langweiligen, verschlafenen Stadt der 1960er- und 1970er-Jahre zur europäischen Stadt der letzten 20 Jahre war wesentlich bedingt durch die Migrationswellen, durch die Öffnung zur EU, durch die Energie und den Ehrgeiz, den Gastarbeiter und Flüchtlinge mitbrachten.

Migration hat Österreich seit Jahrhunderten mehr bereichert als belastet. In Zeiten steigender Überalterung der Gesellschaft ist die Aufnahme Asylwerbender, nachziehender Familienmitglieder usw. zukunftssichernd. Längst wird die Gesellschaft in wesentlichen Bereichen von zugewanderten Menschen getragen: im Gesundheitssektor, im Altenpflegebereich, in der Gastronomie.

Das Hochstilisieren von Migration und Asyl zur zentralen gesellschaftlichen Problematik verdeckt die wahren Gefahren Korruption und Wirtschaftsverbrechen.

Die staatliche Unterstützung der Banken, die Anschaffung der Eurofighter – beides hat ein Hundertfaches dessen verschlungen, was die Integration von Asylwerbenden und Zugewanderten kostet. Die pathologische Fixierung auf Asyl und Fremdenrecht verstellt den Blick auf die zentralen Herausforderungen der Zeit wie etwa die Bildungspolitik.

Bildung ist nicht nur der Schlüssel für die wirtschaftliche Zukunft, sondern führt zugleich zur raschen Integration Zugewanderter. Und nebenbei: Sie ist die beste gesellschaftliche Versicherung gegen Rechtsextremismus.

Gesellschaften funktionieren, solange dieselben Grundwerte für alle gelten. Dies bedeutet gleiche Rechte für Zugewanderte, umgekehrt sollen aber auch keine Sonderregeln bestehen. Die Versäumnisse der Vergangenheit liegen nicht im Zulassen anderer Alltagskulturen, sondern in Duldung und Verständnis für Verbrechen und Vergehen, die man auch keinem Inländer durchgehen lässt. Die Zwangsverheiratung von Frauen, Gewalt in der Familie, das Fernhalten von Familienmitgliedern von Bildung sind mit den europäischen Grundwerten unvereinbar. Es ist absurd, derartigen Verhaltensweisen, die heute von türkischen Behörden bekämpft werden, in Mitteleuropa mit falscher Toleranz zu begegnen.

Die Regierungsparteien haben die FPÖ durch das latente Spiel mit der Fremdenfeindlichkeit groß gemacht. Das Wiener Wahlergebnis ist letztlich auch die Ernte aus der Saat, die man mit der Wahl eines extremen Rechten zum Nationalratspräsidenten ausgelegt hat. Dass nicht allein die "Parallelgesellschaft" FPÖ-Erfolge produziert, wird deutlich, wenn man sich die Wiener Wahlergebnisse ansieht: Die SPÖ gewinnt gerade in den buntesten Bezirken dazu. Dass ein positiver und offener Umgang mit Fremden politisch vielversprechend sein kann, zeigen die deutschen Grünen, die in Umfragen auf mehr als 20 Prozent stiegen. Nicht nur die Zugewanderten, auch die Österreicher haben es verdient, dass sich eine mutige und positive Politik den wahren Herausforderungen der Zeit zuwendet.(Mira Kadriæ, DER STANDARD-Printausgabe, 23./24. 10. 2010)