"Das eigentliche Phänomen ist, dass alle älter werden wollen, aber niemand will alt sein."

Foto: DER STANDARD/Newald

"Alt ist einer, der am Bankerl sitzt und nichts mehr tun kann. Meine Eltern sind davon weit entfernt."

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Standard: Empfinden Sie Ihren Vater, den Chef des Seniorenbundes, eigentlich als alt?

Andrea Khol: (lacht) Nein, alt ist für mich jemand, der am Bankerl sitzt und nichts mehr tun kann. Und meine Eltern sind weit von diesem Zustand entfernt. Sie sind beide extrem vital, haben viel Lebensfreude, sind aktiv. Meine Mutter hat sogar gerade ein Studium zur Geragogin abgeschlossen. Das heißt, sie hat sich mit der Pädagogik bei älteren Menschen und ihren gesellschaftlich-sozialen Problemen beschäftigt. Das ist ein ganz neues Feld für sie. Auch mein Vater ist da sehr engagiert.

Standard: Wie viele Enkel haben Sie?

Andreas Khol: Zehn sind da, und zwei kommen demnächst. Ein gutes Jahr bringt zwei Enkel, sage ich immer.

Andrea: Ist bald nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Standard: Der Seniorenbund ist eine Dachorganisation für alte Menschen.

Andreas: Wenn Sie das sagen, dann springen Ihnen meine Mitglieder an die Gurgel.

Standard: Warum?

Andreas: Es geht immer um den Begriff des Alterns. Alt ist für mich jemand, der aufgehört hat zu lernen. Das ist dann, wenn jemand sagt: Ich schließe mit meinem Leben ab, das war's jetzt, ich will nicht mehr dazulernen. Die Mitglieder des Seniorenbundes sind aber genau das Gegenteil davon. Das sind die Flotten, die sind neugierig, wissbegierig und aktiv. Schließlich gibt es sogar genaue Klassifizierungen von Alter in der EU. Sie sagen, dass man bis zum 60. Lebensjahr ein reifer Erwachsener ist, von 60 bis 85 ist man wirklich erwachsen und erst ab 85 alt.

Standard: Ist nicht das Ende der Erwerbstätigkeit die entscheidende Zäsur?

Andreas: Die hat aber mit Alter - wie wir wissen - nichts zu tun.

Standard: Ist das ihre innovative Sicht auf die Dinge?

Andreas: Nein, sondern weil es nicht stimmt. Es gibt Leute, die überhaupt nie gearbeitet haben, die sind nicht alt. Es gibt Frühpensionisten, auch sie sind nicht alt. Es gibt Menschen, die bis zum Tod arbeiten - also bis 85 oder 90 arbeiten. Auch die habe ich schon kennengelernt.

Standard: Gut, aber differenzieren Sie Ihre Mitglieder?

Andreas: Ich orientiere mich an Rudolf Bretschneiders Sozialforschung und seinem Buch Die Freiheit hat kein Alter, das ich mit herausgegeben habe. Er hat Gruppen identifiziert. Da gibt es die Neugierigen, die Flotten, die Häuslich-Aktiven und die Zurückgezogenen. Interessant ist, dass die Zurückgezogenen immer weniger werden. Vor Jahren waren das 30 Prozent, heute sind es nur mehr 25 Prozent. Das sind Menschen, die krank sind oder an extremer Vereinsamung leiden. Meist können sie ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Auch das kann ein sehr schönes und sinnvolles Leben sein. Die Flotten sind eine wachsende Gruppe. Derzeit machen sie ungefähr zehn Prozent aller Mitglieder im Seniorenbund aus. Sie empfinden es meist als Zumutung, überhaupt dem Seniorenbund beizutreten. 30 Prozent unserer Mitglieder sind unter häuslich-aktiv zusammenzufassen.

Standard: Was sind Sie selbst?

Andreas: Meiner Selbsteinschätzung nach bin ich ein reifer Erwachsener.

Standard: Also eine EU-Qualifikation ...

Andreas: Und ich bin nicht alt, denn ich lerne noch jeden Tag dazu. Das eigentliche Phänomen ist, dass zwar alle älter werden wollen, aber niemand will alt sein. Das ist der Ursprung jeder Diskussion. Im Seniorenbund haben wir einen breiten Querschnitt von Flotten, Neugierigen und Häuslich-Aktiven.

Standard: Warum hat das Alter so wenig Renommee in unserer Kultur, in Japan ist es ja anders?

Andreas: In Japan und China hat das mit dem Shintoismus und der Ahnenverehrung zu tun. Ein in Europa wesentliches, kulturgeschichtliches Phänomen ist das Fehlen des Ahnenkults. Unsere Kultur ist von der individualisierten Einzelpersönlichkeit geprägt. Damit hat auch der Ahnenkult keine religiösen Wurzeln. Die Schätzung des Alters ist sehr stark dadurch relativiert worden, dass Alter als Bedrohung betrachtet wird. Und immer wieder gab es jemand, der dann die Frage stellte: Was tun wir mit den alten Leuten? Diese Frage wird schon sehr lange gestellt. Im 19. Jahrhundert betraf sie die 50-Jährigen.

Andrea: Das hat aber auch ganz stark mit den Besitzverhältnissen zu tun. Die Alten hatten früher mehr Besitz, also Grund und Boden, und übten deshalb auch mehr Macht auf den Clan aus. Das ist ja heute längst nicht mehr so. Heute ist es die aktive Erwerbstätigkeit, die gesellschaftliche Strukturen schafft. Die wenigsten leben heute noch von ererbtem Kapital. Deshalb gibt es die alten mächtigen Männer an der Spitze eines großen Familienclans immer weniger.

Andreas: Das sehe ich auch so. Die Lebenschancen der jungen Menschen sind größer, auch die Chancen auf Freiheit und Selbstständigkeit. Die meisten jungen Menschen verlassen das heimatliche Nest so schnell es irgendwie geht, um außerhalb der Fuchtel ihrer Eltern zu sein. Eines der schwierigsten Dinge als älterer Mensch ist zu lernen, dass ungefragte Ratschläge Schläge sind und auch als solche empfunden werden.

Andrea: Er hat recht. Wir hören die Ratschläge der Eltern nicht gerne.

Andreas: Vor allem ungefragt. Wenn man mit seinen Kindern und Enkelkindern glücklich leben will, darf man sich nicht ständig in ihre Angelegenheiten einmischen, ganz im Gegenteil. Distanz, darum geht es. Und das bedeutet, selbst selbstständig zu leben und auch die Kinder selbstständig leben lassen.

Andrea: Das gilt in unserer Familie genauso, wie es mein Vater sagt. Ich habe ja einen etwas anderen Lebensentwurf als meine Eltern. Ich teile mir die Erziehung unsere beiden Kinder mit meinem Mann. Wir machen halbe-halbe. Das ist bei uns in der Familie neu gewesen. Ich bin sehr schnell nach der Geburt meiner beiden Söhne wieder zurück ins Erwerbsleben. Meine Mutter war besorgt, weil meine Kinder schon mit eineinhalb Jahren in den Kindergarten gingen. Da wart ihr beide besorgt, ob das funktionieren kann.

Andreas: Natürlich waren wir besorgt, aber wir haben kein Wort gesagt.

Andrea: Das stimmt, aber ihr habt mich unterstützt, habt die Kinder vom Kindergarten abgeholt und hingebracht. Ich habe mich für diese Entscheidung, sie in den Kindergarten zu schicken, also nie kritisiert gefühlt.

Standard: Dennoch wissen Sie, dass es nicht den Idealen von Kindererziehung ihrer Eltern entsprach?

Andrea: Wir haben darüber gesprochen, und ich kenne die Einstellung meiner Eltern.

Andreas: Aber wir haben unsere Vorurteile dann auch revidiert.

Andrea: Stimmt.

Andreas: Völlig revidiert nämlich.

Standard: Das ist das, was Sie unter Lernen verstehen?

Andreas: Genau. Andrea war die Älteste, die hat es natürlich immer am schwersten.

Andrea: Aber ich war nicht die Erste, die ein Kind bekommen hat.

Andreas: Aber die Erste, die greifbar war mit ihren Kindern, deine Schwester ist in England.

Standard: Haben Sie die Grundprinzipien ihrer Eltern hinter sich gelassen?

Andrea: Völlig. Es war eine Entscheidung, die ich zusammen mit meinem Mann getroffen habe. Er wollte in die Kindererziehung involviert sein. Und er wollte können, was alle Mütter können. Für unsere Kinder sind wir beide als Elternteile auch voll gleichberechtigt. Wenn ich nicht da bin, dann kann mein Mann alles machen - nicht nur, was die Kinder betrifft, sondern auch was den Haushalt anbelangt. Das ist ein Glück, dass wir das so schaffen.

Standard: Sehen Sie Ihre Erziehung in ihren Kindern verwirklicht?

Andreas: Wenn meine Kinder wollen, bekommen sie Hilfe. Wir sind eine sehr große Familie. Wir feiern nächstes Jahr unseren 70er. Die Kinder haben vorgeschlagen, dass wir alle gemeinsam in Urlaub gehen sollen. Also Kinder, Partner und Enkelkinder, insgesamt 26 Leute.

Andrea: Das Haus muss groß sein.

Standard: Aber es ist ein gutes Zeichen, dass alle mitfahren wollen?

Andrea: Manche fürchten sich auch ein bisschen, vor allem einige Partner, aber ...

Andreas: ... aber auch da haben wir schon gesagt: Nur das Abendessen soll gemeinsam eingenommen werden. Alle unsere Kinder haben unterschiedliche Lebensentwürfe. Was wir uns als großes Plus anrechnen, ist, dass unsere Kinder sehr ungewöhnliche Partner haben. Wir kommen aber gut mit ihnen aus, stellen ich und meine Frau immer wieder fest. Andrea ist mit dem Sohn eines sozialdemokratischen Politikers verheiratet. Als er noch um sie geworben hat, ist er am Sonntag zu uns zum Mittagessen gekommen und hatte die Volksstimme dabei. Eine Tochter habe ich, die einen Inder geheiratet hat. Und ich habe einen Sohn, der eine türkische Freundin hat, die hier aufgewachsen ist.

Standard: Schön?

Andreas: Super. Von den sechs Kindern, die wir haben, haben fünf eine selbstständige Tätigkeit. Auch das ist ein Zeichen.

Standard: Und niemand teilt Ihren Lebensentwurf?

Andreas: Das werden wir sehen. Die Kinder sind noch zu klein. Vielleicht entscheidet sich jemand dafür, so wie wir zu leben.

Standard: Haben Sie, Herr Khol, je den Gedanken gehabt, zu arbeiten aufhören zu wollen?

Andreas: Nein, ich für mich habe den Eindruck, in dem Moment, in dem ich nicht mehr aktiv bin, verblöde ich sofort.

Andrea: Das ist derselbe Eindruck, den ich während meiner dreimonatigen Karenzzeit hatte.

Andreas: Meine Aktivitäten werde ich hoffentlich machen, bis ich nicht mehr kann. Das werden physische Grenzen sein. Das Ehrenamt macht mir große Freude, aber auch meine publizistische Tätigkeit. Wenn ich das nicht mehr machen könnte, würde ich sofort krank, davon bin ich überzeugt. (Karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.10.2010)