Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ist in Heidenreichstein u.a. Gesprächspartner von Christoph Ransmayr. Schauspieler lesen aus seinen Werken.

Foto: Jürgen Bauer/Suhrkamp Verlag

Andrea Schurian sprach mit ihm über Gut und Böse, dicke Zeitungen und arme Banker.

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STANDARD: Sie haben sich schon früh, etwa in "Die große Wanderung. 33 Markierungen" (1992), zu Einwanderung und Asylpolitik Gedanken gemacht. Wie beurteilen Sie den aktuellen Diskurs?

Enzensberger: Zwanzig Jahre haben alle großen Parteien behauptet, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Doch sobald man vor die Haustür tritt, erkennt man die Lüge. Überall sind Menschen mit Migrationshintergrund - auch ein Lügenwort. Weil man die Einwanderer leugnet, kann man auch keine Einwanderungspolitik machen. Das ist Realitätsverlust.

STANDARD: Und Asylpolitik?

Enzensberger: In Deutschland haben vor allem die Grünen gesagt: Alle Unterdrückten dieser Erde, kommt zu uns. Das ist idiotisch. Es gibt vier Milliarden Menschen, die in Nöten sind. Wie sollen lächerlich kleine Länder wie Österreich oder Deutschland, die ja nur Kleckse auf der Landkarte sind, diese vier Milliarden unterbringen? Das ist auch Realitätsverlust.

STANDARD: In "Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer" haben Sie 2006 über Islamismus, Terrorismus geschrieben.

Enzensberger: Es war natürlich, wie immer alles, zu früh: Ehe die großen Debatten losgehen, macht man ein kleines Büchlein, sei es zur Einwanderung oder zu Terrorismusfragen. Ich bin jemand, der sich Gedanken macht, aber dann gehe ich wieder weg. Das müssen andere machen.

STANDARD: ImMoment reden alle über Sarrazins Thesen. Keine Lust, an diesem Diskurs teilzunehmen?

Enzensberger: Nein. Wieso? Alle plaudern darüber, jede Meinung findet bereits einen Platz. Völlig unnötig, dass ich auch noch meinen Senf dazu gebe.

STANDARD: Warum wird die Debatte so emotionell geführt?

Enzensberger: Weil die politische Klasse es nicht gern hat, wenn ihre Realitätsverluste auf den Tisch kommen. Aber die Realität hat eine eigene Kraft, irgendwann bricht sie sich Bahn - oft auf sehr unangenehme Weise. Für Populisten ist die Realitätsverleugnung ein gefundenes Fressen.

STANDARD: Angesichts Ihres riesigen Werks stellt sich die vielleicht banale Frage: Wie schaffen Sie das alles?

Enzensberger: Mir gefällt meine Arbeit, ich amüsiere mich dabei. Ich bin ein Dichter, aber ich setze mich nicht um neun Uhr früh hin und dichte bis um fünf. Also habe ich wieder Zeit frei. Außerdem hat man ja zwei Hände. Ich kann mit der linken etwas anderes tun als mit der rechten: eine Zeitschrift machen, Bücher verlegen, einLibretto schreiben. Es ist auch sehr zeitsparend, den Sport wegzulassen. Deshalb erfreue ich mich auch bester Gesundheit. Ich kriege keinen Herzinfarkt vom Joggen oder breche mir beim Skifahren die Knochen.

STANDARD: Zur Gesundheitsstabilisierung rauchen Sie auch - wie beurteilen Sie die Raucherdebatte?

Enzensberger: Die ist aus Amerika importiert, dort ist die Lokalisierung des Bösen sehr wichtig: Der Teufel muss wo sein, sonst sähe die Welt ja anders aus. Ich kann aber an jeder Ecke eine Waffe kauen: Das Böse sitzt also nicht in der Waffe. Sondern in der Zigarette. Das ist eine Art Ökonomie des Bösen.

STANDARD: Und das Gute?

Enzensberger: In einer Bevölkerung gibt es, proportional gesehen, wenige absolute Heilige und wenige, die zu 100 Prozent Teufel sind. Selbst der Diktator schafft es nicht, 24 Stunden nur Teufel zu sein. Die Sehnsucht nach dem Gutsein ist weit verbreitet - aber auch das ist nicht glaubwürdig. Ein Pfarrer etwa muss immer gut sein. Doch dann gibt es da diesen Chorknaben - und es kommt die andere, die dunkle Seite heraus.

STANDARD: Sie wollten nie als moralisches Gewissen gelten...

Enzensberger: Um Gotteswillen. Nein! Wie komm ich denn dazu.

STANDARD: ...und dennoch haben Sie "Moralische Gedichte" geschrieben.

Enzensberger: Nicht, um die Menschen zum Guten zu bekehren. Sondern weil die Moral eine sonderbare anthropologische Sache ist: Sie ist den Menschen nicht ganz auszutreiben. Es beschäftigt sie. Deshalb ist es ein Thema für die Poesie. Denn die Poesie ist ein Allesfresser. Sie kann von allem handeln. Sicher, es gibt auch Dichter, die Spezialisten sind: Naturdichter, gesellschaftskritische Dichter, Liebesdichter. Aber ich möchte möglichst viele Seiten der Menschen, dieser mysteriösen Erscheinung in der Evolution, sehen, was sie antreibt, welche Macken sie hat.

STANDARD: Gibt es eigentlich etwas, was Sie nicht interessiert?

Enzensberger: Es gibt weite Zonen der Ignoranz. Es wimmelt von Experten, die ganz genau wissen, wie sich die Fußballmannschaft von Kasachstan zusammensetzt. Da bin ich ein totaler Analphabet. Im Prinzip ist die Ignoranz immer größer als die Kenntnis - bei jedem. Es gibt 5000 Sprachen, aber die Menschen bilden sich was drauf ein, wenn sie fünf oder sechs sprechen.

STANDARD: Im "Baukasten zu einer Theorie der Medien" haben Sie sich auch medienkritisch geäußert. Wie sehen Sie die Zukunft der Medien? Wird es Zeitungen irgendwann nur mehr online geben?

Enzensberger: Aber es gibt doch genügend Zeitungen. Einigen geht es fast zu gut. Eine deutsche Wochenzeitung wiegt ein halbes Kilo, die ist völlig verfettet. Die Herald Tribune hingegen ist eine wunderbar schlanke Zeitung: Da haben Sie auf zwölf Seiten alles. Natürlich gibt es von der Ökonomie der Aufmerksamkeit her Verdrängungseffekte. Aber wenn eine Zeitung eingeht, ist das nicht schlimm, dann kommt eben eine andere. In jedem Land wird zumindest eine Zeitung übrigbleiben, besser natürlich zwei. Aber schon McLuhan hat in den 1950er-Jahren die These aufgestellt, dass nicht einMedium das andere abschafft. Es gibt ja das Theater auch immer noch, sogar so etwas Absurdes wie die Oper. Außerdem muss nicht jedes Medium einMassenmedium sein: Es muss ja auch etwas für die Happy Few geben. Die Idee mit denMehrheiten ist in der Demokratie wichtig, aber nicht in der Kunst. Es ist doch völlig egal, ob ich mit einem Buch auf der Bestsellerliste bin.

STANDARD: Aber hat hohe Quote nicht auch etwas mit Geld zu tun?

Enzensberger: Wenn Geld meine Priorität ist, dann werde ich nicht Schriftsteller, sondern Banker.

STANDARD: Und säßen womöglich im Gefängnis?

Enzensberger: Das ist die Ausnahme. Ich komme gerade in Versuchung, die Banker zu verteidigen. Wer als Priorität setzt, viel Geld zu verdienen: Das ist ja fast schon mönchisch. Trader, Investmentbanker müssen rund um die Uhr erreichbar sein, die büßen viel an Lebensqualität ein und sind mit 35 ausgebrannt. Die können einem ja fast leid tun. (Andrea Schurian, DER STANDARD - Printausgabe, 23./24. Oktober 2010)